Der neue Frühling
weitergezogen. Doch dann kamen andere, ein Trupp von Knaben auf dem Weg zur Schule, und sie purzelten durcheinander und hüpften herum und bewarfen sich mit ihren Schulheften. Als sie ihn erblickten, blieben sie stehen und nahmen dann eine etwas würdigere Haltung ein, wie es sich gehörte, wenn man dem Chronisten über den Weg läuft. Aber die Augen, die Augen dieser Kinder waren hell und funkelten vor Lebensfreude.
»Was gibt es Neues?« fragte er streng.
»Ja, Herr, es gibt Neues, ja, Herr. Deine Tochter Herr, die Edle Nialli Apuilana…«
»Was ist mit ihr?«
»Sie wurde gefunden, Herr. Im Seengebiet. Der Jäger Sipirod hat sie gefunden. Gerade bringen sie sie zurück!«
»Und ist sie…«
Er brachte die Frage nicht vollständig heraus. Die Knaben waren schon weitergezogen und schubsten und purzelten weiter.
»… gesund?«
Sie riefen etwas zu ihm zurück. Er konnte die Worte nicht begreifen. Aber ihre Stimmen klangen fröhlich, und man konnte den Sinn kaum mißverstehen. Es war alles in Ordnung. Nialli lebte, und sie kehrte in die Stadt zurück. Hresh schickte ein Dankgebet zu den Göttern hinauf.
»Du mußt mit mir kommen, Mutter Boldirinthe«, sagte der junge Wachsoldat ernst. »Der Häuptling verlangt nach dir. Ihre Tochter braucht dringend eine Heilung.«
»Ja. Ja, natürlich«, sagte die Opferfrau. Die Feierlichkeit des jungen Soldaten zwang ihr ein Lächeln ab. Ein Beng, wie die meisten der Wachmänner, ein massiger Kerl mit schwerfälliger Zunge und furchtbar gravitätisch in seinem Auftreten. Aber eben noch sehr jung. Und das machte vieles verzeihlich. »Glaubst du nicht, ich wüßte schon, daß man mich rufen würde? Nachdem sie vier Tage in diesen giftigen Sümpfen gelegen hat – in welchem Zustand das arme Ding sein muß! Also, Junge, hilf mir mal auf die Beine. Ich werd allmählich so gewaltig wie ein Zinnobär.«
Sie streckte den Arm aus. Doch der Stadtgardist schlüpfte mit unerwartet beflissener Höflichkeit hinter ihren Stuhl, legte ihr seinen Arm um die Brust und hob sie empor. Sie wackelte ein wenig, und er stützte sie. So kräftig er war, fiel ihm das nicht leicht. Boldirinthe mußte über sich selber und ihre träge Masse kichern. Die Fleischesmassen lagerten sich auf ihr geradezu lawinenartig ab, jeden Tag eine neue Schicht. Bald würde sie in sich selber begraben sein und sich praktisch überhaupt nicht mehr bewegen können. Ihre Beine waren wie Säulen, der Bauch ein faltiger fester Lavaberg. Aber sie machte sich deswegen keine größeren Sorgen. Sie war den Göttern dankbar dafür, daß sie sie lang genug hatten leben lassen, um diese Verwandlung durchzumachen, und daß sie ihr stets das Lebensnotwendige gewährten, aus dem heraus sie ihre Leibesfülle aufbauen konnte. Vielen anderen war ein derartiges Glück nicht beschieden gewesen.
»Da drüben«, sagte sie jetzt, »den Ranzen auf dem Tisch – gib ihn mir her!«
»Ich kann das doch für dich tragen, Mutter.«
»Keiner darf ihn tragen, außer mir. Gib ihn schon her. Braver Bub. Hast du einen Wagen parat?«
»Ja, im Hof.«
»Nimm meinen Arm. So ist’s recht. Wie heißt du?«
»Maju Samlor, Mutter.«
Sie nickte. »Bist du schon lang bei der Garde?«
»Erst seit einem Jahr.«
»Schrecklich, die Sache mit der Ermordung eures Hauptmanns. Aber sein Tod wird nicht ungesühnt bleiben, wie?«
»Wir suchen Tag und Nacht nach dem Mörder«, antwortete Maju Samlor. Er grunzte ein wenig unter Boldirinthes schwankenden, rollenden Gewichtsmassen, doch es gelang ihm, sie geradeaus zu steuern. Behutsam arbeiteten sie sich auf den Hof hinaus vor. Es war das zweitemal innerhalb von zwei Tagen, daß sie ihre Klosterzelle verließ, denn erst am Vortag hatte sie an der Versammlung teilgenommen, die Taniane in die Basilika einberufen hatte. In diesen Tagen war das ganz ungewöhnlich für Boldirinthe, daß sie so oft außer Haus ging. Alle Bewegung fiel ihr so schwer. Bei jedem Schritt rieben ihre Schenkel aneinander, und die Brüste zogen sie wie Steingewichte zu Boden. Aber vielleicht tat es ihr ja auch ganz gut, wenn sie sich etwas öfter einmal ein bißchen bewegte.
Der lange Ranzen bereitete ihr nun doch größere Mühe, als sie erwartet hatte. Sie hatte am Morgen alles hineingepackt, was sie für die Behandlung der Nialli Apuilana benötigen würde – die Talsimane von Friit und Mueri selbstverständlich, aber auch die aus schwerem Holz geschnitzten Medizinstäbe und ein Sortiment von Kräutern und Tränklein in steinernen
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