Der neue Frühling
der Beng-Archive, bevor sie an mich überstellt wurden. Nun, er half mir bei der Dechiffrierung.«
Sie legte die Hände über das Manuskript. »Darf ich?«
»Du wirst nicht viel davon haben. Aber ja, mach nur!«
Er sah ihr zu, während sie sich über den Text beugte. Die Lineatur war für sie natürlich völlig unverständlich. Diese uralten Beng-Hieroglyphen waren völlig anders als die jetzt gebräuchlichen Charaktere und gingen einem modernen Begriffsvermögen ganz und gar nicht leicht ein. Aber Nialli schien fest entschlossen, das Problem zu meistern. Ach, sie ist mir doch in vielem verdammt ähnlich, dachte Hresh. Und in so vielen anderen Dingen so ganz und gar fremd.
Sie brummte tonlos vor sich hin, drückte die Finger fester auf, mühte sich, aus dem Blatt einen Sinn zu erschlüsseln. Als ihm schien, sie hätte sich lange genug vergeblich damit abgeplagt, griff er nach dem Skript, um es für sie zu entziffern, doch sie schob ihn weg und arbeitete allein weiter.
Er betrachtete sie, und sein Herz quoll ihm über vor warmer Zärtlichkeit. Er hatte sie schon so oft als verloren aufgegeben, aber da saß sie nun still und friedlich bei ihm in seinem Arbeitsstudio… wie früher oft, als sie noch klein gewesen war.
Wie entschlossen und intensiv sie sich auf das antike Manuskript stürzte, das entzückte ihn. Er sah eine wiedergeborene Taniane in ihr, und das führte ihn zurück in die Tage seiner Jugend, als er mit Taniane Vengiboneeza durchstöbert hatte, auf der Suche nach den Geheimnissen der Großen Welt.
Aber Nialli war natürlich etwas mehr als nur der Abklatsch ihrer Mutter. Er entdeckte auch den Hresh in ihr. Sie war impulsiv und unstet gewesen, ein nervöses, ein eigenwilliges Kind, genau wie er. Vor der Gefangenschaft bei den Hjjks war sie neugierig und überschwenglich gewesen, aber auch (wie Hresh es war) einsam, psychotisch, von unersättlicher Neugier, unangepaßt… Wie sehr er sie liebte! Wie tief er mit ihr fühlte!
Sie blickte von der Schriftrolle auf. »Es ist wie eine Sprache, wie man sie im Traum hört. Nichts bleibt lang genug fest, daß ich den Sinn erkennen könnte.«
»So ging es mir zuerst auch. Aber jetzt nicht mehr.«
Sie schob ihm das Skript hin, er legte die Finger darauf, und die seltsamen archaischen Wortgebilde stiegen in sein Bewußtsein herauf.
»Es ist ein Dokument aus den ganz frühen Jahren des Langen Winters«, sagte er. »Alle Stämme des VOLKES waren gerade erst in die Kokons gezogen. Und es gab da einige Beng-Krieger, die einfach nicht glauben wollten, daß sie ihr ganzes Leben lang versteckt in Höhlen sollten zubringen müssen. Und einer von denen veranstaltete einen ‚Aufbruch’, um herauszufinden, ob man die äußere Welt zurückerobern könnte. Du mußt dir verdeutlichen, daß dies Tausende Jahre vor unseren eigenen drei verfrühten Versuchen eines Auszugs aus dem Kokon stattfand. Die nennen wir heute das ‚Kalte Erwachen’, ‚Trugglühen’ und ‚Unselige Morgenröten’. Der Großteil des Texts fehlt, doch was wir haben, lautet so:
»… und sodann stand ich in dem Eisland, und eine Todesbeklemmnis überkam mein Herz, denn ich erkannte, ich würde nicht leben. Sodann wandte ich mich und suchte den Ort unseres Volkes, doch konnte ich den Eingang zur Höhle nicht mehr finden. Und sodann kamen welche vom Hjjk-Volk über mich und packten mich an selbiger Stelle, und legten Hand an mich, und schleppten mich hinweg. Ich aber war frei von Furcht, da ich ja schon dem Tod anheimgefallen war, und welcher Tapfere kann mehr als einmal sterben? Es waren ihrer zwanzig und gar grauenvoll ihr Anblick, und sie nahmen mich gewaltsam mit ihren Klauenhänden und brachten mich an jenen warmen dunklen Ort, woselbst sie hausen, und war es dortselbst wie in einem Kokon, nur gewaltig viel größer, und er erstreckte sich unter der Erde, weiter, als ich zu sehen vermochte, und gab es dortselbst zahlreiche große Straßen und Seitengänge, die in jegliche Richtung abzweigten.
Es befand sich aber an diesem Ort auch der Sitz der Groß-Hjjken, welche ein Ungeheuer ist und von ungeheurem, höchst erschrecklichem Übermaß, bei dessen Anblick mir das Blut rückwärts durch die Adern floß. Sie aber berührte meine innerste Seele und mein Herz mit ihrem Zweiten Gesicht und sprach zu mir also: Siehe, ich schenke dir Frieden und Liebe. Ich aber fürchtete mich nicht. Denn es war diese Berührung, als ihre Seele meine Seele ergriff, als nähme mich eine Große Mutter in IHRE Arme und
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