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Der neue Frühling

Der neue Frühling

Titel: Der neue Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Sein intensiver Bernsteinblick irrte in alle Richtungen in dem großen Saal, außer zu Nialli Apuilana; aber dann plötzlich ertappte sie ihn wieder mit einem dieser gierig-saugenden Blicke. Aber sobald sich ihre Augen trafen, schaute er beiseite.
    Seltsamerweise empfand sie irgendwie Mitleid mit ihm. Weil er dermaßen gehetzt war, so gereizt. Man sagte, daß seine Mutter, Torlyri, von geradezu heiligmäßiger Liebenswürdigkeit gewesen sei und sein Vater der ehrenhafteste Krieger. Aber Husathirn Mueri wirkte nicht im geringsten wie ein Heiliger, und Nialli Apuilana bezweifelte stark, daß er sich in einem Kampf auf dem Schlachtfeld hervortun würde. Er war wohl kaum ein würdiger Nachfahr seiner Älteren. Vielleicht trifft es ja wirklich zu, dachte sie, was die alten Leute immer so gern plappern, daß wir in unserem modernen Zeitalter der Verstädterung zu einer richtungslosen, angstgetrieben Masse geworden sind, völlig ohne klare Orientierung im Leben. Schwächlinge also, dekadent.
    Aber ist das wirklich so, überlegte sie. Sind wir innerhalb einer einzigen Generationenfolge vom Primitivismus zu schwächlicher Dekadenz gelangt? All diese endlosen Zeiten eingesperrt im Kokon, kaum eine Änderung, und dann brechen wir aus und errichten uns eine gewaltige Stadt, und sozusagen über Nacht gehen alle unsere alten Tugenden verloren… unsere Gottähnlichkeit, unsere Würde?
    Husathirn Mueri, dachte sie, ist vielleicht dekadent. Ich bin es vielleicht ebenfalls. Aber ist er ein Schwächling? Bin ich es?
    »Der Chronist! Hresh-der-die-Antwort-weiß! Erhebe sich ein jeglicher vor dem Chronisten Hresh!« Die blökende Hammelstimme des Gerichtsdieners, der nach Hresh ausgeschickt worden war.
    Sie schaute sich um und sah ihren Vater in den Thronsaal treten.
    Wie lange war das jetzt her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Sie wußte es nicht genau: Wochen sicher, vielleicht schon Monde. Es war nie so etwas wie eine deutliche Abkühlung zwischen ihnen eingetreten; es war nur einfach so, daß seine Wege und die ihren sich in letzter Zeit nur selten gekreuzt hatten. Er war beständig mit seiner Erforschung der vergangenen Welten befaßt und ging darin auf, und sie lebte ihr isoliertes, in gewisser Weise abwartendes Leben in den höheren Rängen des Nakhaba-Hauses und verspürte wenig Neigung oder sah kaum Gründe, in die innerstädtischen Viertel hinabzusteigen.
    Sobald auch sie den Saal betreten hatte, wandte sich Hresh ihr zu, als wäre sie das einzige Wesen im Raum, und streckte ihr die Arme entgegen. Und sie flog ihm bereitwillig blitzschnell entgegen.
    »Vater…«
    »Nialli – ach, meine kleine Nialli…«
    Er war in den wenigen Monaten seit ihrer letzten Begegnung stark gealtert, fast so, als lastete jede Woche wie ein ganzes Jahr auf ihm. Natürlich war er an einem Punkt seines Lebens angelangt, an dem die Zeit im Sausegalopp dahinrauschte. Einiges jenseits des fünfzigsten Jahres: ein alter Mann nach den durchschnittlichen Lebenserwartungen im VOLK. Sein Fell war schon lange ergraut. Nialli Apuilana, sein einziges, sehr spät geborenes Kind, konnte sich nicht erinnern, daß es je eine andre Färbung gehabt hätte. Seine schmalen Schultern waren gebeugt, die Brust eingefallen. Einzig seine riesigen dunklen scharlachgefleckten Augen, die wie Leuchtfeuer unter der breiten Stirn flammten, strahlten noch die Vitalität aus, die er in jenen längstvergangenen Tagen besessen haben mußte, als er – kaum mehr als ein Knabe – das VOLK aus dem ererbten Kokon der Vorfahren über die flachen Ebenen nach Vengiboneeza geführt hatte.
    Sie umarmten sich ruhig, fast feierlich. Dann wich sie von ihm zurück, und ihre Blicke trafen sich kurz.
    Hresh-der-die-Antwort-weiß hatte der Gerichtsdiener ihn genannt. Nun ja, so lautete sein voller Zeremonialname. Er hatte ihr einmal erzählt, daß er ihn sich an seinem Benamungstag selber gewählt hatte. Zuvor, in seinen Knabentagen, hieß er Hresh-voller-Fragen. Beide Namen paßten gut zu ihm. Nirgendwo gab es einen Verstand wie den seinen – stets bohrend, immer suchend. Wahrhaftig, er war sicher der weiseste Mann auf der Welt. Dachte Nialli. Sagten alle.
    Sie fühlte sich von seinen erstaunlichen Augen eingesogen, aufgezehrt, die Wunder und Rätsel gesehen hatten, welche sie kaum zu erfassen vermocht hätte. Hresh hatte die Große Welt im Leben gesehen. Er hatte ein Gerät in der Hand gehalten, das dies alles wieder herbeibrachte in inneren Gesichten, das ihm das gewaltige Volk der

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