Der neue Frühling
Vielleicht bewirkt ja diese Ankunft des Gesandten, daß sich in ihr so etwas wie Verantwortungsgefühl gegenüber der Stadt entwickelt, oder doch wenigstens gegenüber ihrer eigenen Familie. Und wenn überhaupt jemand aus diesem Fremden aus dem Norden für uns nützliche Informationen herausholen kann, dann sie. Außerdem…«
Er brach mitten im Satz ab. Staip war zurückgekehrt. Er stakte straff herein, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst. Leise sagte er zu Thu-Kimnibol: »Boldirinthe würde dich gern sprechen.«
Die Opferpriesterin war aus dem Krankenzimmer gekommen und wartete im Vorzimmer. Boldirinthes gewaltige Fleischmassen quollen über die Ränder eines geflochtenen Rohrsessels, dem es sichtlich schwerfiel, die Last zu tragen. Sie machte eine Andeutung, als wolle sie sich erheben, aber es blieb bei der Geste, und sie sank sofort wieder tief in den Sitz, sobald Thu-Kimnibol ihr mit einer Bewegung bedeutet hatte, sie möge Platz behalten. Sie wirkte bedrückt, und dies war atypisch für sie, denn normalerweise sprudelte sie über von Lebensfreude und Fröhlichkeit – sogar in Zeiten äußerster Düsternis.
»Also – es geht zu Ende?« fragte Thu-Kimnibol ohne Umschweife.
»Ja. Sehr bald. Die Götter rufen sie zu sich.«
»Und du kannst nichts tun?«
»Alles, was möglich war, wurde getan. Das weißt du doch. Aber gegen den Willen der Fünffaltigkeit sind wir machtlos.«
»Ja. Das sind wir wohl.« Er nahm die Hand der Opferpriesterin zwischen seine beiden Hände. Nun, da die Entscheidung klar war, fühlte er sich ruhig und gelassen. Er verspürte einen unklaren Drang, Boldirinthe dafür zu trösten, daß sie in ihrem Bemühen, ein Leben zu retten, gescheitert war, und dies, während sie ihrerseits ihm Trost zuzusprechen versuchte. Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Dann fragte er: »Wie lang noch?«
»Du solltest – jetzt Abschied nehmen«, sagte Boldirinthe. »Später ist es vielleicht zu spät.«
Er nickte. Dann ging er in das Gemach, in dem Naarinta lag. Sie wirkte gefaßt, und seltsamerweise sah sie unglaublich schön aus, als habe das lange Leiden jede kleinste fleischliche Unklarheit aus ihr herausgebrannt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging sehr schwach, doch sie war noch immer bei Bewußtsein. Die alte Blinde, diese Fashinatanda, hockte an ihrem Bett und salbaderte vor sich hin. Als er in den Raum trat, unterbrach sie ihre Litanei, stand auf und verließ lautlos das Sterbezimmer.
Dann sprach er kurz mit Naarinta; aber was sie sprach, war wolkig-unklar, und er wußte nicht, ob sie etwas von dem begriff, was er zu ihr sagte. Und dann schwiegen sie beide. Es sah so aus, als hätte sie schon mehr als den halben Weg in die nächste Welt hinter sich gebracht. Und dann sah Thu-Kimnibol, wie die überirdische Schönheit von ihr zu schwinden begann, je näher der letzte Augenblick kam. Leise sprach er weiter zu ihr, sagte ihr, was sie ihm bedeutete. Er hielt ihre Hand fest und fest, so lange, bis es zu Ende war. Dann küßte er sie auf die Wange. Das Fell dort schien bereits so seltsam anders, war nicht mehr so weich wie früher. Ein Schluchzer (aber nur einer) stieg ihm in die Kehle und brach sich Bahn über die Lippen. Er war erstaunt, daß seine Reaktionen nicht heftiger waren. Doch der Schmerz war wirklich und trotzdem sehr tief.
Er ging dann. Zurück in das Audienzzimmer, wo seine Freunde stumm in einem kleinen engen Kreis zusammenstanden. Er überragte sie, breit wie eine hohe Mauer. Er fühlte sich auf einmal abgesetzt, isoliert von ihnen, abgeschnitten durch den schmerzlichen Verlust und den Mantel der Einsamkeit, der ihn umhüllte. Dieser abrupte Einbruch in ein Leben, das bisher von Glückseligkeit und Erfolg gekennzeichnet gewesen war und offenkundig ausgezeichnet durch die Gunst der Götter. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, aber er begriff, daß diese seltsame Gelassenheit, die nun über ihn gekommen war, nur auf seine Erschöpfung zurückzuführen sei. Dann überwältigte ihn das starke Gefühl, daß sein bisheriges Leben jetzt, heute, mit dem Tod von Naarinta beendet war, daß nun auch er eine Verwandlung durchlaufen müsse – zu einer Wiedergeburt. Doch… wiedergeboren werden zu was? In was?
Er verdrängte diese Ideen vorläufig. Später war genug Raum, dieses frische Leben in das leere Gefäß seiner Seele strömen zu lassen.
»Sie ist von mir gegangen«, sagte er schlicht. »Kartafirain, schenk mir noch Wein nach! Und dann… Laßt uns ein Weilchen
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