Der neue Frühling
hatte.
Er erinnerte sich, wie die Mauer vor Jahren gewesen war: vier oder fünf massige Lagen massiver Kantquader… Und wie stolz war Salaman gewesen, als der Neue Wall endlich die Stadt von allen Seiten her umringte und man endlich die alte hölzerne Palisadenbefestigung abbrechen konnte! Natürlich wußte Thu-Kimnibol, daß Salaman seinen Wall Jahr um Jahr unablässig weiter erhöht hatte. Doch er hatte nie erwartet, eines Tages vor so etwas Grandiosem zu stehen. Das Bollwerk wuchtete sich beängstigend und als überwältigende Masse in die Höhe und war eine schreckliche Aufschichtung von schwarzem Gestein, die fast den Himmel verdeckte.
Vor welchem Feind fürchtete sich Salaman, daß er einen solchen Schutzwall nötig fand? Was für düstere Dämonen hatten sich in seiner Seele eingenistet, in den Jahren seit ihrer letzten Begegnung?
Auf der Mauerkrone standen in enger Formation etwa tausend Speerkrieger. Ihre Lanzen hoben sich stachelscharf gegen den hellen Himmel ab. Sie standen starr, fast bewegungslos. Und die Höhe der Mauer machte sie zu Zwergen: Sie sahen kaum größer aus als Ameisen.
Unterhalb von ihnen war ein gewaltiges mit Erzriegeln armiertes Holztor. Als die Karawane sich näherte, öffnete es sich mit lautem Knarren und Quietschen, und ein halbes Dutzend (nicht eine mehr) unbewaffneter Gestalten trat daraus hervor und begab sich etwa hundert Schritt weit ins offene Gelände vor der Mauer. Das Tor schloß sich hinter ihnen. Anführer der Gruppe war ein untersetzter, breitschultriger Mann, den Thu-Kimnibol zunächst für Salaman selber hielt, bis ihn ein zweiter Blick belehrte, daß der Mann viel zu jung war, als daß er der König in Person hätte sein können. Einer der Söhne, zweifellos. War es Chham? Oder vielleicht Athimin? Thu-Kimnibol fühlte, wie bei diesem Anblick die alte Wut wieder in ihm heraufzubrodeln begann, als er dachte, wie diese Salamanssöhne ihn vor langer Zeit vertrieben hatten.
Er stieg aus, trat vor und hob die Hand zur Friedensgeste.
»Ich bin Thu-Kimnibol«, brüllte er. »Der Sohn Harruels und Prinz der Stadt des Dawinno.«
Der Breitschultrige nickte. Wirklich, er sah dem Salaman seiner Erinnerung unheimlich ähnlich: die robusten Arme, die kurzen stämmigen Beine, die wachsamen, wißbegierigen Augen, weit auseinanderstehend in dem runden, aber kräftig gezeichneten Gesicht. Nein, der Mann war zu jung, viel zu jung, als daß er Chham oder Ahtimin hätte sein können. »Hier steht Ganthiav, Sohn des Salaman. Mein Vater, der König, entbietet dir durch mich den Willkomm und heißt mich, dich in die Stadt zu geleiten.«
Also einer der jüngeren Söhne. Vielleicht war er zur Zeit der Flucht Thu-Kimnibols noch nicht einmal geboren. Aber bedeutete die Entsendung dieses Ganthiav zum Empfang möglicherweise irgendwie eine versteckte Beleidigung?
Nur die Ruhe bewahren, mahnte sich Thu-Kimnibol. Gleichgültig, was passiert, laß dich nicht aus der Ruhe bringen!
»Wenn du mir folgen möchtest?« bat Ganthiav höflich, als das Tor sich erneut zu öffnen begann.
Thu-Kimnibol warf noch einmal einen Blick zur Mauerkrone und zu der erstaunlichen Schar regloser Bewaffneter hinauf. Dort oben gab es auch eine Art Pavillon, einen kuppelförmigen Auswuchs aus glatteren, weniger schwarzen Steinen, eher grauen, als denen der Mauerkonstruktion. Durch ein Langfenster hatte man Ausblick über die Ebene vor der Mauer. Flüchtig haftete Thu-Kimnibols Blick auf diesem Auslugfenster. Er sah den Schatten einer Gestalt dahinter, und dann trat diese Gestalt ins Licht, und Thu-Kimnibol sah in die unverwechselbaren grauen Augen Salamans, des Königs von Yissou, die ihn düster und unversöhnlich und kalt musterten.
4. Kapitel
Das Opfer
Auf spezielle Anordnung Husathirn Mueris, den Curabayn Bangkea ersucht hatte, war Kundalimon vom Hausarrest entbunden worden und durfte sich frei in der Stadt bewegen. Wann immer es ihm beliebte, konnte er die kleine Zelle im Mueri-Haus verlassen und frei durch alle Stadtteile streifen, auch die heiligen Stätten und Amtsgebäude besuchen. Nialli hatte ihm dies genau erklärt: »Keiner wird dich anhalten. Niemand dir was Böses tun.«
»Auch wenn ich in die Königinkammer gehe?«
Sie lachte. »Du weißt doch, wir haben keine Königin.«
»Aber – deine – Mutter. Die Frau, die herrscht?«
»Ja, meine Mutter.« Kundalimon hatte noch immer Schwierigkeiten mit Begriffen wie ‚Mutter’ und ‚Vater’. Derartige Sozialkonzepte der Fleischlinge begannen ihm
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