Der neunte Buddha - Thriller
hergeben!«
»Wer ist Thondrup Chophel?«, fragte Christopher.
»Er ist der Geku. Der für Disziplin im Kloster sorgt. Dazu gehört, dass man ihn fürchtet. Manche Mönche schlagen schon einmal über die Stränge. Aber ich mag Thondrup überhaupt nicht. Er ist …« Sie verstummte.
»Was ist er?«
»Er kann sehr brutal sein«, sagte sie. »Der Abt hat ihn deswegen schon mehrfach verwarnt. Einmal hat er einem Mann die Arme gebrochen, nur weil der beim Beten des Tangyur einen Fehler gemacht hat.«
»Warum wurde er nicht abgelöst?«
Sie lächelte matt.
»Wir sind hier in Dorje-la«, sagte sie. »Der Geku wird niemalsabgelöst. Disziplin geht vor. Gebrochene Knochen heilen wieder.«
Er schaute sie besorgt an.
»Und was ist mit gebrochenen Herzen?«
Sie seufzte.
»Herzen sind wie Tassen aus Porzellan«, flüsterte sie. »Wenn sie zerbrechen, dann sind sie nicht mehr zu kitten.« Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, und sie blickte wieder ernst drein.
»Dann gehen wir also jetzt zu Thondrup Chophels Raum. Können Sie mich ungesehen dorthin bringen?«
»Ich denke schon.«
Nervös griff sie sich an die Stirn. Das Blut war ein bisschen getrocknet, aber die Wunde brannte noch.
Sie liefen durch stockdunkle oder nur schwach erhellte Gänge wie Mäuse, die sich stets im Schatten halten. Ständig lauschten sie auf Stimmen oder Schritte. Mehrfach waren solche Geräusche aus der Ferne zu ihnen gedrungen. Zweimal mussten sie in dunkle Räume huschen, bis kleine Gruppen von Mönchen vorüber waren. Sie gingen davon aus, dass jeder, dem sie begegneten, ihr Feind sein konnte. Auf den unteren Stockwerken war zu sehen, was Samjatin angerichtet hatte. Überall lagen die Leichen seiner Opfer umher. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten, das Genick gebrochen und einigen den Schädel eingeschlagen. Das Ganze war fast geräuschlos abgelaufen, ein stummes, blutiges Werk.
Chindamani erklärte Christopher flüsternd, eine bestimmte Anzahl Mönche sei von Tsarong Rinpoche in chinesischen Kampftechniken ausgebildet worden. Sie hatte Samjatin besonders an sich herangezogen. Chindamani meinte, über Tsarong Rinpoche halte er sie unter Kontrolle.
Als sie sich dem Lha-kang näherten, war ein leises brummendes Geräusch zu vernehmen.
»Hören Sie?«, wisperte Chindamani. »Sie singen Hymnen an Yama.«
»Wer ist Yama?«, fragte Christopher.
Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu, und eine Lampe ließ ihre schwarzen Augen aufblitzen.
»Der Herr des Todes«, antwortete sie und wandte ihr Gesicht ab.
Sie ließen den Lha-kang hinter sich, aber der Gesang war noch lange zu hören. Am Ende des Ganges stießen sie auf eine rot gestrichene Tür in der rechten Wand.
»Ist das der einzige Zugang?«, fragte Christopher.
Sie nickte.
Sie lauschten am Türspalt, aber kein Laut war zu vernehmen. Allein mit dem kleinen Messer bewaffnet fühlte sich Christopher nackt und bloß.
»Wir brauchen dringend Waffen«, sagte er. »Diese Leute meinen es ernst. Wir können sie nicht mit bloßen Händen abwehren.«
Sie dachte eine Weile nach, dann nickte sie.
»In Ordnung. Warten Sie hier.«
In der Nähe gab es ein kleines Gelass, wo Kleider und andere Sachen für den Gebrauch im Lha-kang aufbewahrt wurden. Chindamani ließ Christopher dort eintreten und verschwand in dem Gang. Wie ein Schatten schwebte sie geräuschlos über die kalten Steine. Er wartete in der Dunkelheit auf sie – besorgt und nervös, denn er wusste, dass die Auseinandersetzung jetzt ihrem Höhepunkt zustrebte.
Nach fünf Minuten war sie mit einem Kurzschwert zurück. Sie habe es aus dem Gön-kang genommen, erklärte sie. Dort seien kaum noch Waffen zu finden gewesen.
Sie schlichen wieder zu der Tür am Raum des Geku zurückund lauschten noch einmal. Kein Laut war zu hören. Aber aus dem Lha-kang drang immer noch der Gesang der Mönche herüber. Christopher legte seine Hand an die Tür und drückte sie sachte auf. Später wunderte er sich oft darüber, warum er in diesem Augenblick nicht laut aufgeschrien hatte. War das Entsetzen zu groß gewesen, um das Bild sofort zu erfassen? Oder hatte er in diesem Augenblick alle Angst vergessen und war in ein anderes Reich eingetreten, wo nur noch Schweigen herrschte?
Er spürte, wie Chindamani ihre Hand in seinen Arm krallte, aber es war, als gehörten ihre Körper aus Fleisch und Blut einer anderen Welt an, die sie gerade hinter sich gelassen hatten. Jemand hatte Lampen angezündet und in regelmäßigen Abständen an den
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