Der neunte Buddha - Thriller
auf das nächste und das übernächste. Große, dichte Spinnweben füllten den Gang. Der Gestank, ein regelrechter Pesthauch, wurde immer intensiver. Christopher konnte sich allmählich denken, was die Leichname ausgesaugt hatte. Aber eine gewöhnliche Spinne wäre dazu nicht in der Lage gewesen.
Unvermittelt mündete der Gang in einen weiten Raum, dessen Größe nicht klar zu erkennen war. Christophers Lampe erleuchtete nur einen begrenzten Umkreis, aber als die Kinder und Chindamani hinzukamen, wurde nach und nach klar, wo sie sich befanden.
Es war eine größere Kammer voller Spinnweben, riesiger uralter Netze, die sich wie phantastisches Maßwerk vom Boden zur Decke und von Wand zu Wand schwangen. DasLicht der Lampen warf wilde Schattenspiele aus Fäden und Netzwerk an die Wände. Da waren Netze wie Hängematten, andere wieder wirkten wie graue Spitzengardinen. Der ganze Raum war übervoll davon.
Wohin sie auch schauten, überall erblickten sie die zusammengebundenen, mumifizierten Reste menschlicher Körper. Sie hingen in den Spinnweben wie Fliegen – leicht, grau und blutleer. Dieser Raum war ein unterirdisches Lager Gott weiß welchen Alters. An einigen Stellen waren die Leichname aufgeschichtet und zu dicken Stapeln zusammengesunken. In einer Ecke wurde gerade ein offenbar frischerer Zugang zu ihrem Vorrat von einer ganzen Armee von Spinnen bearbeitet, die mit raschen Bewegungen auf ihrer Beute hin und her huschten. Entsetzt versuchte Christopher die Größe der Tiere zu schätzen. Ihre Beine mussten länger sein als der Unterarm eines Mannes von den Fingerspitzen bis zum Ellenbogen.
Die schwarzen Wesen waren überall. Die Netze hingen voll von ihnen. Sie schaukelten, wenn sich die Spinnen mit ihren riesigen, hässlichen Beinen darin bewegten.
»Um Himmels willen, zurück in den Tunnel!«, rief Christopher. An den Enden der runden Hinterleiber hatte er Stachel entdeckt und vermutete, dass die Spinnen ihre Beute nicht mit brutaler Gewalt überwältigten.
Halb gelähmt stolperten sie zurück, vorbei an den Netzen zum Eingang der Fresskammer, bis sie auf der Höhe des ersten Leichnams zum Stehen kamen. William zitterte vor Angst und Abscheu. Selbst seine schlimmsten Alpträume hatten ihn auf einen derartigen Anblick nicht vorbereitet. Auch Samdup war starr vor Schreck.
»Das ist ja entsetzlich!«, sagte Chindamani immer wieder. Unaufhörlich strich sie sich über Arme und Leib, verzweifelt bemüht, sich von etwas zu befreien, das an ihr haften mochte.Sie fühlte die weichen Leiber und kalten Beine der Spinnen an ihrem Körper. Von solchen Kreaturen gestochen, niedergemacht und ausgesaugt zu werden …
Christopher sah nach, ob es auch hier Spinnen gab. Bislang hatte sich keine auf sie herabfallen lassen oder war ihnen gefolgt. Sie also bewachten die Schätze des Orakels. Eine Spinnenart, mutiert in der dünnen Luft und der Dunkelheit, entdeckt oder hierhergebracht, um jeden Eindringling zu Tode zu stechen. Aber warum fanden sich keine in der Schatzkammer? Und woher waren ihre Opfer gekommen?
»Chindamani, Samdup«, sagte Christopher im Befehlston. »Holt alles, was ihr an Kleidung im Gepäck habt, hervor. Wickelt es fest um Hände und Gesicht. Lasst keine Lücke, nur einen schmalen Schlitz für die Augen. Helft einander. Und beeilt euch. Wir haben sie aufgescheucht, vielleicht tauchen sie bald hier auf.« Er beugte sich hinab und erklärte William das Ganze noch einmal auf Englisch. Der Junge hatte Samuel aus seiner Tasche geholt und drückte ihn fest an sich.
»Steck Samuel wieder ein«, sagte Christopher mit sanfter Stimme. »Du musst die Hände freihaben.« William gehorchte widerstrebend.
Fieberhaft hüllten Chindamani und Samdup einander ein, wobei sie alle Schals und Unterwäsche benutzten, die sie eingepackt hatten. Als sie fertig waren, half Chindamani William und dann Christopher.
»Wir können immer noch zurückgehen«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, erwiderte sie. »Dort ist Sam-ja-ting. Auf beiden Seiten erwartet uns der Tod. Aber hier unten haben wir vielleicht eine Chance. Die große Kammer ist ihre Höhle. Dahinter muss die Yama-Treppe liegen. Wenn wir so weit kommen, sind wir gerettet.«
Christopher betete, sie möge recht haben.
Als sie bereit waren, ging er bis zur Tunnelmündung voraus. Da hörte er etwas in der Dunkelheit rascheln. Es war, wie wenn man mit steifem Draht über Papier fuhr. Eine Anzahl Spinnen kam ihnen entgegen, um die Ursache der Störung zu
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