Der neunte Buddha - Thriller
erreichen. Als sieangekommen waren, wusste Christopher nicht, was er zu ihm sagen sollte. Er stieg ab und half auch Chindamani vom Pferd. Sie gähnte, hielt sich dicht neben ihm und erschauerte in der Morgenbrise.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete Christopher. Und zu Winterpole auf Englisch: »Wissen Sie, wo wir uns befinden?«
Winterpole grinste.
»Ich weiß es in der Tat«, sagte er. »Gestern Abend, bevor das Ganze angefangen hat, habe ich zugehört, wie die Kerle sich unterhielten. Da bekam ich eine grobe Vorstellung davon, in welche Richtung sie reiten wollten.«
Er drehte sich um und hob die Hand.
»Sehen Sie diese Berge vor uns?«
Christopher nickte.
»Das ist die Bogdo-Ula-Kette. Auf der anderen Seite liegt Urga.«
53
»Ich bin müde.«
Sie gingen nun schon tagelang, aber Samjatin ließ kein Anzeichen für ein Nachlassen der Kräfte erkennen. Samdup fragte sich allmählich, ob er überhaupt ein Mensch war.
»Möchtest du eine Praline?«, fragte der Burjate und hielt dem Jungen eine große Bonbonniere hin. Gott weiß, wo oder wie er sie beschafft hatte. Jedenfalls tauchte sie eines Abends in Uljassutai auf – eine heftige Versuchung für ein Kind, das bisher ganz selten im Leben etwas Süßes gekostet hatte. Sie trug die Aufschrift Debauve & Gallais , dem einstigen Lieferanten der französischen Könige, und stammte eindeutig aus deren kleinem Geschäft am Anfang der Rue des Saints-Pères, von wo sie in jenen friedvollen Tagen nach St. Petersburg gelangt war, bevor dort Kronen und Schokoladegleichermaßen verboten wurden. Aber welchen Weg die Schachtel, die bei weitem nicht mehr in unberührtem Zustand war, bis in die Steppen der westlichen Mongolei genommen hatte und wie sie am Ende in die Hände des an Gleichheit glaubenden Samjatin als Köder für einen kleinen Gott-Prinzen gelangt war, würde wohl für immer unergründet bleiben.
Samdup schüttelte den Kopf und ging schweigend weiter. So leicht konnte man ihn nicht von seiner Erschöpfung ablenken. Es war keine Laune, dass er sich beschwerte. Der Junge war wirklich todmüde, und es brauchte mehr als eine weitgereiste Süßigkeit, um seinen Geist oder seinen Körper für die Härten des nächsten Tages zu wappnen. Er hegte einen tiefen, erbarmungslosen Hass gegen Samjatin und wäre ihn liebend gern losgeworden. Aber zwischen beiden war mit der Zeit ein Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit entstanden, so dass Samdup auch der Gedanke an eine Trennung wenig beruhigend erschien.
Samjatin ließ sich zu William zurückfallen, dessen Pony hinter ihnen dahintrottete. Da es ihm sehr schlecht ging, waren sie übereingekommen, ihm das einzige verbliebene Reittier zu überlassen. Der Stich der Spinne, den er sich in den Gängen unter Dorje-la zugezogen hatte, war zu einer ungeheuren Beule angeschwollen. In der vergangenen Woche hatte sich diese stark gerötet, und die Haut darüber war gespannt wie ein Trommelfell. Der Junge hatte ständig Schmerzen und konnte nachts kaum noch schlafen. Bei jedem Halt hatten mongolische Ärzte ihn untersucht, aber sie alle ließen ihn nur verschiedene Kräutermixturen schlucken, die keinerlei Wirkung zeigten.
»Iss du eine Praline, William«, drängte Samjatin und hielt ihm die Schachtel hin. Aber der Junge blickte nicht auf, ja, er gab nicht einmal zu erkennen, dass er ihn gehört hatte.Er aß nur noch wenig, und Samjatin machte sich ernste Sorgen.
Ehrlich gesagt, hätte er sich seiner schon vor Wochen entledigen sollen. Tibet lag noch weit in der Zukunft, und er war nicht sicher, wie nützlich ihm William dabei überhaupt sein konnte. Aber etwas an der Situation des Jungen hatte in Samjatin das letzte bisschen Gewissen geweckt, das er noch besaß. Manchmal tat es ihm leid, dass er ihn aus seiner Heimat hatte entführen lassen. Besonders jetzt fühlte er sich schuldig, da er sicher war, dass William nicht mehr lange zu leben hatte, wenn er nicht bald eine richtige medizinische Behandlung erhielt.
Obwohl die Jungen nach wie vor die Sprache des anderen nicht verstanden, hatte sich zwischen ihnen eine merkwürdig enge Freundschaft entwickelt. William hatte Samdup ein bisschen Englisch beigebracht und dabei ein wenig Tibetisch gelernt. Aber sie reihten die Wörter ohne Grammatik oder Syntax aneinander. Sie verständigten sich mit Mitteln, die die Sprache überwanden oder umgingen. William ließ nur Samdup an seinen Nacken heran, wenn er besonders schmerzte. Und Samdup ging ohne William
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