Der neunte Buddha - Thriller
er war weg. Keine Nachricht, kein Zeichen und keine Spur, der sie hätten folgen können. Er hatte sein gesamtes Gepäck im Lager zurückgelassen. Sie suchten natürlich nach ihm – den ganzen Tag und auch den nächsten –, aber er war nicht zu finden. Dann setzten schwere Schneefälle ein. Sie mussten die Suche abblasen und eilig nach Yatung weiterziehen.
Er ist nie wieder aufgetaucht. Doch ein Leichnam wurde auch nicht gefunden. In meiner Schule kam ein Brief an. Ichhabe ihn eines Tages mitten in der Lateinstunde erhalten. Er war sehr offiziell abgefasst. Keinerlei Mitgefühl, die nackten Formalitäten. Schließlich wurden mir seine Sachen zugeschickt – Auszeichnungen, offizielle Briefe, seine Ernennungsurkunde und ähnliches Zeug. Das liegt alles noch in einer Truhe zu Hause in England. Ich habe es nie angeschaut, aber es ist da.«
»Sie sind also in England geblieben?«, unterbrach ihn Cormac.
Christopher schüttelte den Kopf. »Dorthin bin ich erst kürzlich zurückgekehrt. Ich habe England verlassen, sobald ich mit der Schule fertig war, und reiste sofort nach Indien, wo ich in der Verwaltung zu arbeiten begann. Das war 1898. Ich weiß nicht mehr, warum ich überhaupt zurückkam. Manchmal denke ich, ich wollte nach meinem Vater suchen, aber das kann eigentlich nicht stimmen. Vielleicht hatte ich nur das Gefühl, dass hier noch etwas zu Ende gebracht werden musste. Das wollte ich tun.«
»Und haben Sie es getan?«
Christopher starrte auf die Wand, auf einen feuchten Fleck oben kurz unter der Decke. Daneben saß ein Gecko. Blass und geisterhaft presste er sich an das Gemäuer.
»Nein«, antwortete er schließlich leise, als spreche er zu sich selbst.
»Es ist schrecklich, nicht wahr?«, ließ Cormac hören.
Christopher sah ihn verständnislos an.
»Das Leben«, meinte der Arzt. »Eine ziemlich schlimme Angelegenheit. Das«, fuhr er fort, »ist der einzige Vorteil, wenn man alt wird. Man hat nicht mehr so viel davon vor sich.«
Christopher nickte und nippte an seinem Becher. Ein Schauer überlief ihn wie von einer schlimmen Vorahnung. Es war spät geworden.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er.
12
»Legen Sie los«, antwortete Cormac und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Irgendwas läuft hier«, stellte Christopher fest. »Heute Abend bin ich überfallen worden. Vielleicht war es ein Dieb, wie Sie meinen, vielleicht auch ein Räuber, der es satt hatte, den Leuten an Straßen und Wegen aufzulauern. Möglicherweise aber auch jemand, der nicht wollte, dass ich hier in Kalimpong herumlaufe und Fragen stelle. Langsam denke ich, dass die letzte Variante die wahrscheinlichste ist.«
»Was für Fragen haben Sie denn gestellt, Mr. Wylam?«
Christopher sagte es ihm. Cormac schwieg eine Weile, als ob er sich sammeln wollte. Das Licht der billigen Kerze blendete ihn. Er wandte sein Gesicht ab.
»Ich glaube, ich habe nicht das Recht, Sie geradeheraus zu fragen, weshalb Sie sich so für diesen Mönch interessieren oder, wichtiger noch, weshalb jemand Ihren Sohn entführen und ihn ausgerechnet hierher nach Kalimpong oder nach Tibet hinaufbringen sollte.«
»Ich kann nur sagen, dass ich für die Regierung gearbeitet habe und dass jemand, der davon weiß, glaubt, die Entführung meines Sohnes habe etwas mit dieser Tätigkeit zu tun. Wir wissen, dass der Mönch eine Nachricht aus Tibet gebracht hat, die an den mongolischen Handelsvertreter hier, einen Mann namens Mishig, weitergegeben wurde.«
»Mishig kenne ich gut. Es sollte mich nicht wundern, wenn er an einer krummen Sache beteiligt ist. Fahren Sie fort.«
»Ich möchte herausfinden, wie ein Mann, der im Sterben lag, den angeblich niemand mehr besucht hat und der im Delirium gewesen sein soll, jemandem eine Nachricht überbracht haben kann. Langsam denke ich, dass ich hier nur meine Zeit verschwende.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Cormac leise.
Christopher reagierte nicht, aber er spürte, dass die Atmosphäre im Raum sich verändert hatte. Ob es an dem Schnaps lag, an der späten Stunde oder dem Schwelgen in Erinnerungen – jedenfalls war Cormacs Stimmung von spöttischem Zynismus in ernste Nachdenklichkeit umgeschlagen. Er war drauf und dran, bisher streng gehütete Dinge auszusprechen.
»Ich glaube«, sagte der Arzt, der seine Worte jetzt sorgfältig abwog, »der Mann, den Sie brauchen, ist Reverend Dr. Carpenter. Er kennt Mishig sehr gut. Und wenn ich nicht irre, kannte er den Mönch sogar noch besser. Aber, um die Wahrheit
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