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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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den Aufbau des Gehirns so lang und breit, als vermute er in mir jemanden, den man gerade erst aus dem Urwald gelockt hatte. Dann fiel ihm wohl ein, dass ich nicht ganz verblödet war, und er fing an, mir Fachwörter wie Thalamus, Hypothalamus und Amygdala um die Ohren zu hauen und in hochgradig lateinhaltigen Sätzen von Lernprozessen zu faseln, die da irgendwo stattfänden. »Es gibt keine gefühlsmäßig neutrale Wahrnehmung«, schloss er endlich, »weil alle Wahrnehmungen zuerst die Amygdala und den Thalamus passieren, ehe sie weiterverarbeitet werden.«
    »Sag bloß«, meinte ich, während ich die Leitungen des Telefons so umlegte, dass alle Anrufe zuerst meine Mithöreinrichtung passierten, ehe sie im Telefon weiterverarbeitet wurden.
    »Man weiß schon lange«, fuhr Hans-Olof fort, »dass das Gehirn so in den Körper eingebunden ist, dass es keinen Sinn macht, es unabhängig davon zu betrachten. Es gibt einerseits das autonome Nervensystem, Sympathicus und Parasympathicus, die wesentliche Körperfunktionen steuern; umgekehrt steht die Funktion der Neuronen in Wechselwirkung mit hormonalen Vorgängen im Körper.« Er hielt inne, wahrscheinlich, weil er mal wieder atmen musste, was ja auch keine ganz unwesentliche Körperfunktion ist. »Und das hat Sofía Hernández erforscht.«
    »Was? Die Hormone?«, fragte ich zurück.
    »Nicht die Hormone selbst, sondern die Art und Weise, wie sie mit dem Nervensystem in Wechselwirkung treten. Früher kannte man nur die übergeordneten Zusammenhänge. Wenn zum Beispiel der Adrenalinspiegel im Blut hoch ist, wird man reizbar und gerät leicht in Wut. Solche Dinge. Aber wie genau das vor sich geht, wo das Hormon angreift, was es tut und so weiter, das wusste man nicht.«
    Es sah aus, als müsse alles funktionieren, also begann ich, das Gehäuse des Telefons wieder aufzusetzen. »Man hört immer, ihre Versuche seien so umstritten gewesen. Wieso eigentlich?«
    »Weil sie nicht die Funktionsweise des Adrenalins erforscht hat«, sagte Hans-Olof und hüstelte, »sondern die Funktionsweise der Sexualhormone.«
    »Klingt lustig«, meinte ich und schob den Schraubenzieher in die Vertiefung, die der Designer für die Gehäuseschrauben vorgesehen hatte.
    »Ausgerechnet im katholischen Spanien. Vor über zwanzig Jahren. Es war ein Skandal.«
    »Und wie«, fragte ich, die Schrauben andrehend, »muss ich mir das vorstellen? Hat sie Orgien veranstaltet und den Leuten dabei Blutproben genommen, oder was?«
    Hans-Olof hüstelte wieder, rieb sich das Kinn und die Nase und suchte dabei nach Worten. Es schien ihm selber nicht ganz geheuer zu sein. »Ich schätze«, meinte er schließlich, »ich muss dir erst einmal erklären, wie die Versuchsanordnung aussah.«
    »Nur zu«, sagte ich, drehte die letzte Schraube fest und stellte das Telefon wieder an seinen Platz. Es sah gut aus. Man musste es natürlich noch testen, aber es sah gut aus.
    »Sofía Hernández verwendete die PET, das ist die Abkürzung für Positronen-Emissions-Tomographie. Diese Messmethode erlaubt Messungen im Millimeter-Bereich und in zeitlichen Abständen von weniger als einer Minute, was sehr gut ist. Aber sie erfordert, dass der Schädel der zu untersuchenden Person fixiert ist. Die Versuchsperson sitzt in einem Sessel, die ganze Messapparatur – ein Koloss von Gerät – steht dahinter, und der Kopf ist eingespannt wie in einem Schraubstock. Man kann ihn keinen Millimeter rühren.«
    Ich versuchte, mir das vorzustellen. Aus irgendeinem Grund fiel mir unser Gefängnisfriseur ein; der hätte bestimmt auch gern so ein Ding gehabt. Er hatte sich immer entsetzlich aufgeregt, wenn man den Kopf im falschen Moment bewegte.
    »Okay«, sagte ich, »und dann?«
    »Normalerweise stellt man bei solchen Versuchen einen Bildschirm vor die Versuchsperson hin, auf dem beispielsweise Wörter erscheinen, die sie auswendig lernen soll. Während sie das tut, misst man die Aktivitäten in ihrem Gehirn. Das hat man schon oft gemacht, und offiziell waren die Versuchsreihen, die Sofía Hernández durchführte, Ergänzungen zu einer entsprechenden Vorlesungsreihe. Tatsächlich aber hat sie eine Messanlage gebaut, die nicht die Vorgänge im Großhirn registrierte, sondern die tiefer liegenden Prozesse im Kleinhirn, im Thalamus, im limbischen System und in der Amygdala.«
    »Kommt mir immer noch nicht verwerflich vor.«
    »Die Messungen, auf die es ihr ankam, nahm sie vor, während sie angeblich die Messsonden auf dem Kopf der betreffenden Person

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