Der Nobelpreis
Kristina war sein Ein und Alles, der Sinn seines Daseins, alles, was ihm von seiner Frau und der Zeit mit ihr, den besten Jahren seines Lebens, geblieben war.
Hans-Olof fühlte ohnmächtiges Entsetzen, Verbrechern ausgeliefert zu sein, sich ihren Machenschaften wehrlos beugen zu müssen …
Halt mal. Was für ein Unsinn. Das mochte vielleicht auf Sizilien so sein oder in der Bronx von New York, aber dies hier war Schweden! Niemand durfte hierzulande andere Leute erpressen und hoffen, ungestraft davonzukommen.
Nein. Er war diesen Verbrechern nicht hilflos ausgeliefert. Die würden sich noch wundern. Alles, was er zu tun hatte, war, zur Polizei zu gehen und den Fall zur Anzeige zu bringen.
Und das würde er auch tun. Sofort. Er stürzte an seinen Schreibtisch, riss den Hörer vom Apparat und machte den, wie er später nicht müde werden sollte zu erklären, größten Fehler seines Lebens.
Er holte hastig das Telefonverzeichnis aus der Schublade und wählte die Nummer der Bergströmschule. Es klingelte lange, dann meldete sich eine Frauenstimme und nannte einen Namen, den er nicht verstand.
Hans-Olof rief: »Guten Tag, Andersson hier. Können Sie bitte meiner Tochter etwas ausrichten?«
»Moment«, sagte die Frau. Sie raschelte mit irgendwelchen Papieren. »Andersson? Welcher Andersson?«
»Professor Andersson. Meine Tochter heißt Kristina und geht in die Klasse 8A.«
Rascheln. Es klang, als räume die Frau nebenher ihren Schreibtisch auf. »Tut mir Leid, ich kann sie jetzt nicht holen lassen. Nach meinem Plan hier schreibt sie gerade eine Englischarbeit.«
»Ich weiß«, nickte Hans-Olof, obwohl es nicht stimmte. Das hatte er nicht gewusst. Er war sich nicht sicher, ob sie es ihm vielleicht erzählt und er einfach nicht zugehört hatte. Auf der anderen Seite erzählte sie ihm schon lange nicht mehr alles. Töchter in Kristinas Alter waren schwierig, das hatten ihm alle bestätigt, die er gefragt hatte. Und natürlich liebte er sie trotz aller Auseinandersetzungen mehr als sein Leben. »Sie sollen sie auch nicht holen lassen. Ich will nur, dass Sie ihr etwas ausrichten.«
»Gut«, sagte die Frau. »Und was?«
Ja, was? Das war eine gute Frage.
Aus irgendeinem Grund kam er nicht auf die nahe liegende Idee, zuallererst seine Tochter von der Schule zu holen und in Sicherheit zu bringen, ehe er zur Polizei ging. War es, weil er das Ausmaß der drohenden Gefahr im Grunde nicht begriffen hatte? War es generelle professorale Lebensuntüchtigkeit? Oder war es ein trotziger Unwille, sich sein gewohntes Leben aufgrund von Drohungen moralisch fragwürdiger Menschen durcheinander bringen zu lassen? Er neigte später dazu, letzterer Auffassung den Vorzug zu geben.
Immerhin war ihm klar, dass er die Schulsekretärin unmöglich damit beauftragen konnte, Kristina auszurichten, draußen lauere jemand auf sie und sie solle sich im Schulkeller verstecken oder dergleichen. »Sagen Sie ihr bitte …«, begann er, während er fieberhaft überlegte. »Sagen Sie ihr, sie soll heute in der Schule auf mich warten. Sie soll nach dem Ende des Unterrichts nicht nach Hause gehen, sondern in der Schule bleiben, bis ich komme.«
»Mmmh«, meinte die Frau skeptisch. »Und wann wird das sein?«
Er rechnete rasch. Die Fahrt nach Kungsholmen zur Polizei, die Zeit dort, vielleicht musste er warten, oder es wurde ein Protokoll aufgesetzt, dann hinaus nach Sundbyberg … »Vielleicht in anderthalb Stunden. Ich weiß es nicht genau.«
»Verstehe.« Es klang nicht so, als ob sie wirklich verstünde.
»Kann sie vielleicht bei Ihnen im Sekretariat warten? Oder irgendwo, wo ein Erwachsener ein Auge auf sie hat?« Dass eine Schule keine Festung war und ein Lehrer oder eine Sekretärin Kristina im Ernstfall nicht beschützen konnte, wenigstens das war ihm klar. Aber obwohl der Anrufer gewusst hatte, welche Stunde Kristina gerade hatte, gelangte Hans-Olof nicht zu dem Schluss, dass diejenigen, die das Schulhaus beobachteten, wahrscheinlich ihren gesamten Stundenplan kannten. Im Gegenteil, er war allen Ernstes der Überzeugung, sie würden, wenn Kristina nicht herauskam, davon ausgehen, dass sie immer noch Schule hatte, und weiter warten.
»Von mir aus«, meinte die Frau. Im Hintergrund klingelte ein anderes Telefon.
»Sagen Sie ihr, sie soll das Gebäude nicht verlassen, ehe ich nicht da bin«, wiederholte er.
»Ja, das habe ich schon verstanden«, erwiderte die Frau kurz angebunden. »Entschuldigen Sie, ich muss jetzt ans andere
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