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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Ich kann es mir leisten, wissen Sie? Ich … Es geht mir gerade nicht so gut, und ich würde lieber …«
    Aber irgendwie kam ich nicht gegen seine manische, wilde, überströmende Energie an. Er schüttelte den Kopf, wischte meine Einwände mit wedelnden Händen beiseite und trat näher. Er bewegte sich heftig, ausladend, zuckend beinahe. Allein ihm zuzusehen verursachte mir Kopfschmerzen.
    »Nein, nein, ich habe es bemerkt«, zischelte er. »Sie haben mich erkannt. Sie hätten das nicht getan, wenn Sie nicht erkannt hätten, wer ich eigentlich bin. So viel Geld haben Sie nicht, dass Sie es sinnlos verschwenden könnten, dass Sie es vergeuden würden an einen Unwürdigen. Sie würden nicht hier wohnen, wenn Sie so viel Geld hätten.«
    Und schon saß er neben mir auf dem Bett, auf meinem Bett. Das, was er mitgebracht hatte, war ein Album, wie man es für Familien-und Babyfotos verwendet.
    »Hier«, sagte er, schlug es auf und legte es mir auf den Schoß. »Das ist meine Arbeit. Meine Studien. Wichtige Arbeit für die Menschheit, aber das sehen nur wenige, ganz wenige, leider.«
    Es war eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über grausame Morde, Folterungen, Vergewaltigungen. Frau erschlägt ihre drei Kinder mit Axt. Mann ertränkt neugeborenen Sohn. Liebespaar am Strand grausam ermordet und zerstückelt aufgefunden. Ehepaar foltert pubertierende Tochter mit Peitschen, brennenden Zigaretten und Stacheldraht.
    Ich schob ihm das Album wieder zurück. Draußen auf der Straße hupte jemand laut und wild. »Schon gut. Danke. Aber das ist nicht das, was ich im Moment brauchen kann.«
    »Nein, nein, Sie müssen es sich genau ansehen«, beharrte er und schob es mir zurück. Seine Stimme war aufgeregt. Er haspelte die Worte hervor, als habe er sie seit gestern Morgen unablässig wiederholt und könne es kaum erwarten, sie loszuwerden. »Ganz genau! Sie müssen die Verbindungen sehen. Verstehen, was all das bedeutet.«
    Weitere Seiten. Zwölfjährige Kinder erwürgen alte Frau in ihrer Wohnung, um an Geld fürs Kino zu kommen. Frau vergiftet ihre Schwiegertochter mit Rattengift, weil sie nicht in die Kirche geht. Mann köpft seinen Vater im Streit. Und zwischen all den Morden, so, als gehörten sie in die gleiche Kategorie, tauchten Statistiken über Seitensprünge auf, Meldungen über die Eröffnung einer Schwulenbar in Stockholm, die Affären eines Rockmusikers oder die Entwicklung von neuen Potenzmitteln.
    »Und?«, fragte ich. »Was bedeutet es?«
    Er roch nach altem Schweiß und rohem Kohlrabi. Ich bin in solchen Dingen nicht kleinlich, aber sein krauses Haar und sein Bart hätten eine Wäsche dringend nötig gehabt. Er fuchtelte mit den Händen über die Seiten. »Die Verbindungen! Es gibt immer zwei Geschichten, die äußere, scheinbare, und die innere, wahre. Sie verstehen nur, wenn Sie die Absicht hinter allem entdecken. Kennen Sie die Kabbala? Numerologie? Ich habe den Code entschlüsselt, sehen Sie. Das war meine Arbeit in den letzten zehn Jahren.«
    Ich betrachtete die Seiten noch einmal. Erst jetzt fiel mir auf, dass Tollar die eingeklebten Artikel bearbeitet hatte, mit Kugelschreiber, Bleistift und einer Vielzahl von Buntstiften. Er hatte Wörter eingerahmt, meist die Namen von Orten und Städten und jeweils das Datum des jeweiligen Ereignisses, hatte von da Linien an den Rand oder zu anderen Artikeln gezogen und lange, komplizierte Berechnungen angestellt aus Quersummen aller Art, wilden Additionen und Subtraktionen, hatte Rechenschritte durchgestrichen, übermalt, korrigiert und, wenn es völlig unübersichtlich wurde, kleine Zettel dazugeklebt, die nur an der Kante befestigt waren und aufgeklappt werden konnten.
    Das Ergebnis jeder Seite, eingerahmt und unterstrichen, lautete 666.
    »Die Zahl des Tiers«, raunte er. »Sehen Sie? Überall. Wenn man den Code kennt, erschließt sich einem die Bedeutung. Man darf nur nicht verblendet sein, dann sieht man, was das alles zu bedeuten hat. Es bedeutet, dass die Welt in den Händen Satans ist.«
    »Ah«, meinte ich. Ich war so müde. Fast willenlos blätterte ich weiter, tastete über das dünne, vergilbte Papier der Zeitungsausschnitte, die teilweise schon alt waren, zehn Jahre und älter.
    Es war eine geballte Ladung Wahnsinn. Tollars religiöser Wahnsinn und der Wahnsinn der Welt dazu. Er musste an dieser Sammlung mit kaum nachvollziehbarer Hingabe gearbeitet haben; jede Seite war bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgekritzelt mit Berechnungen, mit Sätzen,

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