Der Nobelpreis
drehte sich um. »Ich hab doch gesagt, der ist praktisch nicht mehr von hier fortzukriegen.«
Ein paar Fetzen des Gesprächs waren zu verstehen.
»… wichtiger Versuch; ich muss bleiben, bis …«
»… wird alles besser, wenn ich erst die Prüfung …«
»… natürlich liebe ich dich, was hat denn das damit …«
Der Herr Doktorand telefonierte mit seiner Frau und erfand Ausreden, um nicht nach Hause kommen zu müssen, wo das Baby schrie und es nach vollen Windeln stank.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass der mich nochmal sieht. Es wird ihm komisch vorkommen, dass ein Kurier über eine halbe Stunde lang bleibt und dann das, was er gebracht hat, wieder mitnimmt.«
Hans-Olof furchte die Stirn. »Na und? Was spielt das für eine Rolle, was er denkt oder nicht?«
»Es ist ein unnötiges Risiko. Ich vermeide unnötige Risiken nun mal gern, besonders zurzeit, wo ich genügend nötige Risiken eingehe.« Ich machte ein paar Schritte rückwärts. »Ich schätze, es gibt noch einen anderen Ausgang, durch den ich hinauskann, oder?«
Er wirkte nicht so recht überzeugt. »Ja, gut, wenn du meinst …«
Wir gingen zurück, er bog in eine andere Richtung ab, kramte im Gehen seinen Schlüsselbund hervor und schloss schließlich eine kahle, zweiflüglige Tür auf. »Hier durch.«
In dem Raum dahinter war es dunkel. Es roch eigenartig, nach Stall, nach Pissoir, nach Chemie. Und die Dunkelheit war erfüllt von einem unheimlichen, vielstimmigen Atmen, als lauere irgendwo ein vielköpfiges Ungeheuer.
»Warte. Ich mach Licht.«
Ich blieb mit meinem Karton stehen, während Hans-Olof nach dem Lichtschalter tastete, und spürte eine Gänsehaut, die nicht von der Kälte kam.
Endlich flackerten drei lange Reihen von Neonröhren hoch über uns auf. Sie beleuchteten drei lange Reihen von Labortischen voller wirrer Versuchsanordnungen aus metallenen Gestängen, Glaskolben und bunten Kabeln. Die Tür nach draußen lag am anderen Ende des Raumes, dieselbe Art Tür wie vorn bei dem familienflüchtigen Doktoranden.
»Okay, ich hoffe, ich habe den Schlüssel dabei …« Hans-Olof marschierte, seinen Schlüsselbund absuchend, auf die Tür zu.
Ich sah noch einmal hin. Mit einem Mal begriff ich, woher das Geräusch rührte, das ich eben gehört hatte.
Da waren Tiere in den Versuchsanordnungen!
Ich ging die Tische entlang wie in Trance, meinen Karton in Händen, als sei er das Letzte auf Erden, an dem ich mich festhalten konnte. Ich sah Mäuse, die man auf gelochten Aluminiumblechen aufgespannt hatte, die Pfoten abgespreizt, mit Messingschellen festgeschraubt, den Schwanz mit Klebstreifen festgeklebt, reglos, wie gekreuzigt. Sie hatten Wunden im Rücken, ekelhaft glänzende, nasse Stellen, wo das Fleisch zu Tage lag. In den Wunden steckten spitze Metallnadeln, an denen Kabel befestigt waren, die zu summenden Geräten führten.
Auf andere zerfleischte Rücken tropften helle Flüssigkeiten aus Pipetten, die aus großen, randvoll gefüllten Kolben gespeist wurden. Jeder Tropfen zischte, wenn er auf das rohe Fleisch traf, und ließ die Tiere zucken. Ihre Barthaare bebten, ihr Atem ging hektisch, und was in ihren kleinen roten Augen zu sehen war, konnte nur Verzweiflung sein.
»Hans-Olof, um Gottes willen …«, hauchte ich. »Was ist denn das? «
»Oh, das …« Hans-Olof drehte sich um, immer noch mit seinem Schlüsselbund beschäftigt, und blickte flüchtig über das grausige Folterkabinett auf den Tischen. »Ja, sieht ein bisschen seltsam aus, schätze ich. Das sind unsere Versuchsreihen zur Schmerzleitung.«
»Schmerzleitung«, echote ich.
»Nur ein Teilaspekt, zugegeben, aber ich habe mit meinen Mitarbeitern eine Herangehensweise entwickelt, von der wir uns viel versprechen. Das wissen viele Leute gar nicht: Schmerz ist noch ein weitgehend unverstandenes Phänomen. Wie entsteht er? Wie wird er wahrgenommen? Und vor allem: Wie kann man ihn messen? Wenn man Schmerz messen könnte, das wäre ein großer Fortschritt. Heute kommt jemand zum Arzt und sagt, er hat Schmerzen, aber man kann das nicht nachprüfen und vor allem nicht mit dem Schmerzempfinden anderer vergleichen. Das begrenzt die Sicherheit der Diagnose enorm, weil es die Gewichtung der Symptome rein subjektiv werden lässt, verstehst du?« Er tätschelte einen Metallkasten, auf dessen Flüssigkristalldisplay Zahlen im Sekundentakt wechselten. »Aber wenn wir die neurophysiologischen Grundlagen der Schmerzleitung erst einmal verstanden haben, sind wir einen
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