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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Erinnerung, eine schattenhafte Gestalt, die sich über mich beugt, der Druck einer Hand … »Eigentlich nicht. Ich habe ein paar Bilder im Kopf, aber ich bin mir nicht sicher, wie viel ich davon erfunden habe aufgrund von dem, was Inga mir erzählt hat. Sie hat sich erinnert.«
    »Und in dem Waisenhaus war es so schlimm, dass ihr fliehen musstet?«
    »Geflohen sind wir, weil Inga es sagte. Ganz einfach. Ich weiß nicht genau, warum sie das beschlossen hatte. Damals dachte ich im Ernst, dass der Heimleiter uns umbringen will und wir deshalb gehen müssen. Später hat sie das Thema immer gemieden. Ich glaube, sie wollte in Wirklichkeit den Nachstellungen der älteren Jungs entkommen. Es muss in dem Heim viele Vergewaltigungen gegeben haben, denn der Heimleiter überließ die meiste Zeit alles sich selbst. Das hieß, dass die großen Kinder die kleinen bis aufs Blut tyrannisierten und jeder Tag ein Kampf ums Überleben war. Und wenn Kohlström seinen Rappel kriegte – was ungefähr einmal im Monat der Fall war, immer so für zwei bis drei Tage –, war es nicht besser. Dann setzte es Strafen für alles und jedes, und da waren entwürdigende und ungesunde Dinge dabei wie nackt in der Ecke stehen, Küchenabfälle essen oder ohne Bettdecke schlafen.«
    Ich spürte, wie sie sich versteifte. »Kohlström? Hieß der Heimleiter so?«
    »Ja. Rune Kohlström.«
    »Rune Kohlström … Kann es sein, dass der ein Buch geschrieben hat? Über Kindererziehung?«
    Ein Erinnerungsfetzen. Eine dicke Frau in einem blauen Mantel, die vor der Tür zu Kohlströms Haus stand und etwas rief wie: In Ihrem Buch haben Sie so schön gesagt … »Kann sein. Aber wenn, kann es kein besonders nützliches Buch gewesen sein, denn von Kindererziehung verstand er rein gar nichts. Jedenfalls zu unserer Zeit nicht.«
    »Nein, das muss ein ziemlich altes Buch sein. Sechziger Jahre, spätestens.«
    Ich rechnete träge. »Viel früher kann es auch nicht gewesen sein. Kohlström müsste heute Anfang sechzig sein. Falls er noch lebt und ihn keiner der anderen Jungs inzwischen erschlagen hat, was ich, ehrlich gesagt, hoffe.«
    »Könnte sogar sein, dass das bei uns in der Lehrerbibliothek steht. Wir haben eine Menge grausiger alter Schmöker. Ein Geschenk unseres alten Rektors, und solange der noch lebt, können wir sie nicht wegschmeißen.«
    Ich grunzte schläfrig. »Schon klar. Ihr seid alle wahnsinnig nett und freundlich zu jedermann und erst recht zu einem alten Rektor, der euch seinen Abfall andreht.«
    Birgitta gab mir einen Klaps auf den Handrücken. Einen netten und freundlichen kleinen Klaps natürlich, und dazu sagte sie: »Ich will jetzt keinen Streit, hörst du?«
    »Höre ich«, brummte ich. »Wie wäre es, wenn wir endlich schlafen würden?«
    Das ignorierte sie einfach. Wie sie alles ignorierte, was ihr nicht gefiel. »Wieso musstet ihr überhaupt in ein Waisenhaus damals? Gab es keine Verwandten, die euch hätten aufnehmen können? Damals waren die Familien doch um einiges größer; ich kann mir kaum vorstellen, dass weder dein Vater noch deine Mutter keine Verwandte gehabt haben – Geschwister oder so …«
    Sie rang erstaunlich zäh darum, sich die Welt zu einem schönen, sicheren Ort umzudenken. »Im Jahre 1987«, sagte ich, »haben sich die Behörden aus Anlass meiner ersten Inhaftierung ausgiebig mit meinen Familienverhältnissen beschäftigt, und kurz darauf aus Anlass von Ingas Heiratsplänen gleich noch einmal. Du kannst davon ausgehen, dass wir tatsächlich allein auf der Welt standen.«
    Birgitta räkelte sich unter meinem schweren Arm. Sie schien in regelrechte Tratschlaune zu geraten. »Weißt du, warum ich das frage? Das muss ich dir erzählen. Meine Freundin Maja – das ist die, die im Hotel arbeitet –, also, sie und ihr Mann waren gestern zum Abendessen da. Dabei hat sie eine komische Geschichte erzählt, die Anfang der Woche passiert ist. Dazu musst du wissen, dass sie ein Morgenmensch ist und morgens so voller Energie, dass sie nicht zu bändigen ist. Völlig unvorstellbar für mich. Jedenfalls, aus Versehen hat sie einem Frühstücksgast den Tisch abgeräumt, obwohl der am Büffet stand und sich bloß noch was holen wollte. Das hat ihr jemand von der Crew nachher erzählt und auch, dass der Mann ziemlich verärgert gewesen sein musste. Sie selber hat es überhaupt nicht bemerkt.«
    »Ah ja?«, meinte ich nur, verblüfft darüber, wie klein die Welt sein konnte.
    »Ja, und am selben Tag hat jemand das Hotel verlassen, ohne

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