Der Nobelpreis
Stockholm fünfeinhalb Tage lang in der Gewalt der Bankräuber gewesen waren. Die Geiseln hatten sich im Lauf der Zeit entgegen allen Erwartungen regelrecht mit ihren Bewachern solidarisiert, baten nach Beendigung der Geiselnahme um Gnade für die Täter, und eine der Geiseln, eine junge Frau, verlobte sich schließlich sogar mit einem der Räuber. Dieses Phänomen war bei vielen weiteren Geiselnahmen und Entführungen beobachtet worden, und es harrte trotz zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen und Theorien immer noch einer endgültigen Erklärung.
Das Telefon stand auf dem Couchtisch, und daneben lag ein Kalender, auf dem Hans-Olof die Tage abstrich. Noch nicht einmal Halbzeit. Demnächst brach der November an, aber von da an waren es immer noch mehr als sechs Wochen bis zum zehnten Dezember, bis zur Preisverleihung.
Und Kristina entschwand von Woche zu Woche weiter.
In diesen Tagen lief er Marita Ailing wieder über den Weg, die wissen wollte, ob die Reinigung in der Sergelgatan seinen Anzug habe retten können und was es gekostet habe. »Das ist so eine Marotte von mir«, bekannte sie. »Bis zum Beginn der Nobelwoche will ich immer alle Schulden beglichen haben.«
Hans-Olof erklärte, er fände das ein lobenswertes Prinzip, er sei aber einfach noch nicht in die Stadt gekommen.
»Soll ich es für Sie machen?«, bot sie an. »Es ist sowieso meine Schuld. Wenn Sie den Anzug morgen mitbringen, erledige ich das für Sie.«
Das wollte Hans-Olof nicht annehmen. Nein, er werde sich selbst darum kümmern.
»Aber Sie dürfen nicht ewig damit warten. Flecken werden nicht besser, wenn man sie wochenlang eintrocknen lässt.«
Hans-Olof versprach, keinen Tag länger verstreichen zu lassen.
Da er Marita Ailing jederzeit wieder begegnen konnte und beim nächsten Mal eine Rechnung der Reinigung würde vorweisen müssen, damit sie Ruhe gab, machte er an diesem Nachmittag einige Stunden eher Schluss, fuhr nach Hause, holte den Anzug, der die ganze Zeit achtlos über einer Stuhllehne im Schlafzimmer gelegen hatte, und fuhr weiter in die Stadt. Er parkte im Parkhaus in der Mäster Samuelsgatan, von wo aus es nur noch wenige Schritte bis zur Sergelgatan waren.
Zwischen Sergelgatan und Sveavägen erhoben sich fünf silbern schimmernde Hochhäuser, dem Aussehen nach aus den Siebzigern stammend, deren untere Geschosse miteinander verbunden waren und eine durchgehende Passage bildeten. Dort fand Hans-Olof die von Marita Ailing so warm empfohlene Reinigung, die in seinen Augen keinen Deut anders aussah als jede andere Reinigung, mit der er je zu tun gehabt hatte. Auch die lustlos-routinierte Art, mit der die dicke Frau hinter der Theke seinen Anzug entgegennahm, wirkte alles andere als vertraueneinflößend.
»Ich brauche eine Rechnung«, sagte Hans-Olof, während sie mit ihren fleischigen Händen alle Taschen des Jacketts durchfingerte.
»Kriegen Sie beim Abholen«, erwiderte sie und hielt ihm etwas unter die Nase. »Da. Haben Sie im Anzug gelassen.«
Hans-Olof nahm es. Es war eine Visitenkarte. Die Visitenkarte eines gewissen Bengt Nilsson, Journalist des SVENSKA DAGBLADET.
Verblüffend. Hatte er die nicht zerrissen? »Woher haben Sie die?«, fragte er.
Die Frau, die wulstige Lippen und rote Bäckchen hatte und schon dabei war, den Anzug lose zusammenzulegen und nummerierte Coupons an die einzelnen Teile zu heften, deutete auf eine der Jackentaschen. »War da drin.«
Der Journalist hatte ihm seine Visitenkarte in die Brusttasche gesteckt, einfach so, daran erinnerte er sich. Hatte er ihm gleichzeitig heimlich eine zweite Karte in eine andere Tasche geschoben? Offenbar.
»Danke«, sagte er. Bengt Nilsson. Raffinierter Kerl.
Die Frau schob ihm seinen Coupon hin. »Donnerstag«, sagte sie gleichgültig.
Danach schlenderte Hans-Olof noch ein wenig durch die Passage. Sie war schön gemacht, mit schwarz-weiß gemustertem Marmorboden, und in einem Durchgang lud ein Coffeehouse zum Verweilen ein, bot Schokoladenkuchen und Kaffee im Sonderangebot. Warum nicht? Er hatte noch Zeit, und wenn jemand das Recht hatte, ein wenig zu verschnaufen, dann wohl er. Er suchte ein dickes Brownie aus, nahm einen Cappuccino, bezahlte bei einem jungen, geistesabwesend lächelnden Mädchen und ließ sich mit seinem Tablett an einem der Tische nieder. Trank den ersten Schluck und genoss es, zum ersten Mal seit Wochen nichts vorzuhaben, nichts tun zu müssen und dem Luxus frönen zu können, ein paar Minuten sinn-und zwecklos zu
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