Der Nobelpreis
Feiern, die der Konzern nach der Preisverleihung in Stockholm für seine Preisträgerin zu veranstalten gedachte. Es würde ein Fest für die Firmenvertreter geben, zu dem bekannte Popstars engagiert werden würden; ferner festliche Empfänge, zu denen Größen aus Wirtschaft und Politik geladen wurden – die üblichen Selbstbeweihräucherungsrituale der Herrschenden eben.
Ein von der Aufmachung her auffallendes Blatt schilderte Leben und Werk von Frau Professor Doktor Sofía Hernández Cruz und war wohl als eine Art Spickzettel für Niederlassungsleiter gedacht, die eine Pressekonferenz zum Thema Nobelpreis durchzustehen haben würden. Richtig: Ein zweites Blatt ganz ähnlicher Machart listete Fakten und Daten zum Nobelpreis selbst auf. Unter anderem wurde auch das Vergabeverfahren genau erläutert.
Interessant, dass derlei nötig war. Ich legte die Blätter auf den Stapel der Unterlagen, die ich zwecks eingehenderen Studiums mitzunehmen gedachte. Es würde vielleicht aufschlussreich sein, festzustellen, was darin erwähnt wurde – und was nicht!
Viele Mitteilungen befassten sich auch einfach nur mit medizinischen und firmenstrategischen Fragen – welche Versuchsreihen welche Erfolge gezeitigt hatten, welches neue Medikament wann und wie auf dem Markt eingeführt werden sollte, in welchen Ländern es Schwierigkeiten mit den Gesundheitsbehörden gab und für welche Mittel neue Nebenwirkungen gemeldet worden waren. Teilweise waren die Texte herrlich unverblümt; da wurden Erfolge der Konkurrenz genauestens durchleuchtet, Gegenmaßnahmen erläutert, und nicht selten hieß es warnend »Diese Information ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt«, und das, obwohl jede einzelne Seite sowieso in der Kopfzeile den rot gedruckten Vermerk trug, ihr Inhalt sei vertraulich.
Ich liebe es, derartige Papiere zu lesen, insbesondere, wenn sie nicht für mich bestimmt sind.
Eine Frage, die mich seit Hans-Olofs plötzlichem Auftauchen im Gefängnis bewegte, wurde allerdings auch durch die Lektüre dieser internen Rundschreiben nicht beantwortet. Diese Frage lautete: Was bedeutete der Nobelpreis für Rütlipharm? Abgesehen von Ruhm und Ehre und der allgemeinen Steigerung des Ansehens und des Börsenwerts, Dinge, über die sich natürlich jedes pharmazeutische Unternehmen gefreut hätte – warum hatte es ausgerechnet dieser Nobelpreis sein müssen, und warum jetzt? Was war so dringend gewesen, dass man derart drastische Maßnahmen für notwendig gehalten hatte? Nichts von dem, was ich las, beantwortete diese Fragen.
Vielleicht gab es ja noch geheimere Informationen als diese vertraulichen Rundschreiben? Von »vertraulich« bis »streng geheim« sind schließlich etliche Steigerungsstufen denkbar. Ich wühlte den Stapel durch und stieß auf zwei stabil kartonierte FedEx-Umschläge, deren Aufschrift zu entnehmen war, dass sie per Kurier transportiert worden waren – von Basel nach Stockholm eine schier unbezahlbar teure Beförderungsmethode – und ausschließlich dem Adressaten persönlich, gegen Vorlage eines Identitätsnachweises, auszuhändigen waren.
Ich kannte diese Art Kuriere; ich hatte mehrmals vergeblich versucht, einen von ihnen zu bestechen. Diese Erfahrung machte die beiden Umschläge umso interessanter.
Ich öffnete den einen und holte den Inhalt – zwei zusammengeheftete Stapel von je etwa zwanzig Seiten – heraus. Als ich sie näher in Augenschein nahm, musste ich grinsen. Wie es schien, hatte Rütlipharm seinerseits die Dienste eines Industriespions in Anspruch genommen, um den großen Konkurrenten Pfizer auszuspionieren.
Pfizer ist einer der größten Pharmakonzerne der Welt. Nach einem langen, satten Leben in der Anonymität abseits der Öffentlichkeit geriet die Firma vor einigen Jahren durch die eher zufällige Erfindung des ersten wirklich wirksamen Potenzmittels ins Rampenlicht: Viagra. Ich überflog den Text. Es ging darin um Versuche mit einer Reihe neuer Medikamente, die mit den Codenamen RASPUTIN-1 bis RASPUTIN-92 bezeichnet waren. Allerhand Nebenwirkungen waren aufgelistet, einige davon hatte jemand mit Rotstift unterstrichen und mit Ausrufezeichen am Rand markiert. Ausführlichen Raum nahmen neurologische Befunde ein, die ich nur halb verstand. Auf diesem Gebiet musste sich in den letzten sechs Jahren allerhand getan haben, das an mir vorbeigegangen war.
Egal, die Papiere kamen auf jeden Fall mit. Ich legte sie zu den anderen auf den Stapel. Ein guter Anlass, wieder einmal etwas für meine
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