Der normale Wahnsinn - Roman
sagen Sie mir nicht, ich soll mir keine Sorgen machen.
Ich sollte die Polizei anrufen. Aber die kümmern sich ja sowieso um nichts. Wegen der Polizei kommt Carlton schließlich oft nachts nicht nach Hause. Am laufenden Band wird er festgenommen. Erst vor zwei Wochen wieder, in Shopping City. Der arme Junge hat für mich eingekauft, als einer Frau im Supermarkt die Handtasche gestohlen wurde. Und natürlich greifen sie sich den ersten Schwarzen, den sie sehen. Am Ende haben sie ihn wieder laufen gelassen. Das mussten sie tun. Er war nicht mal in der Nähe der Frau gewesen. Und doch hat mir die Sache Kummer gemacht. Immerhin war er für mich einkaufen gegangen. Erist ein guter Junge. Still und freundlich, genau wie sein Vater. Gott hab ihn selig. Aber er ist so groß. Ich dagegen bin von normaler Größe. Okay, etwas kleiner als der Durchschnitt. Und sein Vater war auch kein Riese. Der Himmel weiß, warum Carlton wächst und wächst. Ich finde ja, dass ihm die Größe gut steht. So hochgewachsen, wie er ist, sieht er fast majestätisch aus. Aber auf der anderen Seite ist die Größe auch ein Fluch. Was glauben Sie, wen die Polizei zuerst auf dem Kieker hat, wenn sie einen Verdächtigen sucht? Denjenigen, der alle anderen um ein gutes Stück überragt, natürlich. Ist doch klar, oder? Und seine Frisur ist dabei auch alles andere als nützlich. Wann schneidest du dir endlich die Dreads ab?, frage ich ihn immer wieder. »Warum sollte ich? Ist doch ’n freies Land, Mum«, sagt er dann. Da bin ich anderer Meinung. Mit Haaren bis zum Hintern kriegt er nun mal keinen Job, und er kann auch nichts dagegen tun, dass die Polizei ihn alle fünf Minuten festnimmt.
»Sicher, dass alles okay ist, Marcia?«, fragt Rose. »Du siehst irgendwie gestresst aus.«
Die platzt schier vor Neugier. Wenn ich der von meinen Problemen erzählen würde, dann wüsste schon bald das ganze A & E davon.
»Mir würde es besser gehen, wenn die ganze Arbeit hier erledigt wäre«, sage ich. Ich drücke ihr ein Paket mit Einmalspritzen in die Hand und schiebe sie aus dem Büro. Ich setze mich an den Computer. Ich muss mich um die nächsten Patienten kümmern. So muss ich nicht so viel an Carlton denken. Vorausgesetzt, er liegt nicht draußen vor der Tür unserer Notaufnahme und verblutet. Ehrlich gesagt warte ich fast auf den Tag, an dem er mit Blaulicht hier eingeliefert wird. Lieber Gott, lass es nicht während meiner Schicht sein. Ich wende mich wieder dem Bildschirm zu und lese den Namen des zuletzt eingelieferten Patienten. Cameron Lister. Ein Kind, das mit hohem Fieber hierher gebracht wurde. Ich stehe auf und mache mich auf die Suche nach einer besorgten Mutter.
Kein leichtes Unterfangen. Die Notaufnahme ist völlig überfüllt – als ob schon Freitag wäre. Auch der Penner ist wieder da. Wie immer liegt er auf der Plastikbank, und niemand traut sich in seine Nähe. Ein dreckiger, alter Stinker. Na ja, so alt ist er auch wieder nicht. Draußen ist es kalt und nass. Auf diese Weise verschafft er sich ’ne halbe Stunde im Warmen, bevor ihn die Security wieder an die Luft setzt. Vielleicht schenkt ihm auch jemand fünfzig Pence für den Getränkeautomaten. Ich hab das auch schon gemacht, aber heute noch nicht.
Jetzt sehe ich sie. Die Arme scheint völlig aufgelöst zu sein. Und dann sehe ich auch, wieso. Ihr kleiner Sohn liegt apathisch in ihrem Arm. Fast kann ich die Hitze, die von ihm ausgeht, spüren. Der Kleine trägt einen Mantel über seinem Pyjama. Und Spider-Man-Hausschuhe.
Während ich auf die beiden zugehe, fällt mein Blick auf die Füße des Penners. Was ist das? Ein nagelneuer Turnschuh und ein uralter Lederschuh mit geplatzten Nähten.
Steve schon wieder : Wie die mich anstarrt! Mit welchem Recht starrt die mich so an? Ich könnte todkrank sein. Sterben. Seit Ewigkeiten liege ich schon hier. Normalerweise setzen die mich nach fünf Minuten wieder an die frische Luft. Keine Chance, sich mal ’n bisschen aufzuwärmen. Was bildet sich diese schwarze Schlampe überhaupt ein? Jetzt geht sie zu dieser Tussi rüber, die gerade hier angekommen ist. Nur weil die jung ist und diesen Windelkacker dabei hat. Und was ist mit mir? Ich könnte im Sterben liegen, verdammte Scheiße!
Christie : Da kommt eine Schwester, und ich schöpfe neue Hoffnung. Wir warten zwar gerade mal zehn Minuten hier, aber Cameron scheint förmlich von innen heraus zu verbrennen. Hab im Haus kein Thermometer finden können, aber ich weiß, dass ich mir das nicht
Weitere Kostenlose Bücher