Der normale Wahnsinn - Roman
kannst du.«
»Und was?«
»Du könntest dieses gottverdammte Sandwich woanders essen. Irgendwo anders, nur nicht hier, okay? Ich bin nämlich kurz vorm Verhungern, weißt du!?«
»Tut mir leid, hab nicht drüber nachgedacht«, sagt er und steht auf.
»Erzähl mir mal was Neues«, rufe ich ihm nach.
Ich höre, wie er in der Küche herumhantiert, den Kühlschrank öffnet und sich ein Bier aufmacht. Dieser Arsch. Und ich muss bis morgen nüchtern bleiben. Wer denkt sich so was eigentlich aus? Ich stelle den Fernseher an und schalte durch die Kanäle. Unzählige Sender und nichts Gescheites dabei. Wie geht das? Vielleicht sollte ich Paul doch in die Videothek schicken. Aber damit würde ich zugeben, dass er zur Abwechslung mal ’ne gute Idee hatte, was meiner derzeitigen Laune nicht zuträglich wäre.
Wieder klingelt das Telefon. Was ist hier eigentlich los? Ich schalte den Fernseher lauter, damit ich nicht höre, wie Paul das Gespräch entgegennimmt. Zwei Stilikonen der Mode erzählen gerade einer Frau, dass die zitronengelben Streifen einfach eine Katastrophe sind. Mädchen, sag den beiden, sie sollen ihr Maul halten. Die zitronengelben Streifen machen dich erst zu dem, was du bist: zu einem zwar erschreckend geschmacklosen, dafür originellen Individuum. Diese Monster wollen dich nur in ein total elegantes, dafür absolut anonymes beigefarbenes Etwas stecken, um dich ihrem Diktat zu unterwerfen.
Paul kommt wieder ins Wohnzimmer zurück. Ohne Teller, dafür mit dem Telefon in der Hand.
»Nicht jetzt«, sage ich.
»Sorry, aber es ist … Michele«, sagt er. »Sie scheint mir ziemlich aufgewühlt zu sein.«
Kein Wunder, ihre beste Freundin wurde ermordet. Ich nehme ihm das Telefon aus der Hand und stelle den Fernseher stumm.
»Hallo, Liebes«, sage ich. »Was ist denn los?«
Sie sagt etwas, aber es geht in ihrem Schluchzen unter, und ich verstehe kein Wort.
»Ist schon gut, lass dir Zeit«, sage ich.
»Ich … fühle mich … richtig scheiße, Ali«, stößt sie zwischen mehreren Schniefern hervor.
»Natürlich tust du das«, sage ich nicht zum ersten Mal seit letztem Donnerstag. »Was passiert ist, ist einfach grauenhaft. Es wird lange dauern, bis du darüber hinweg sein wirst. Und es ist okay für mich, wenn du dir freinimmst, wann immer du es für nötig hältst. Aber das weißt du ja.«
»Ja«, wimmert sie.
Die arme Kleine ist völlig am Boden zerstört. Aber was könnte ich sagen, um ihr zu helfen? Es gibt nichts, wirklich rein gar nichts, was die Trauer über den gewaltsamen Tod einer Achtzehnjährigen auch nur ansatzweise lindern könnte. Wurde sie darüber hinaus eigentlich auch noch vergewaltigt? Niemand weiß es.
Klar, ich hab heute Abend wirklich andere Sorgen. Aber vielleicht tut mir Michele mit ihrem Anruf sogar einen Gefallen. Wenn es etwas Schlimmeres gibt, als kein Kind bekommen zu können, dann doch wohl die Tatsache, dass das eigene Kind von einem Psychopathen für dessen höchstpersönlichen Kick abgeschlachtet wird. Allein der Gedanke daran lässt mein eigenes selbstsüchtiges Problem völlig lächerlich erscheinen.
»Ich fühle mich so scheiße«, schluchzt Michele. Ja, das sagte sie bereits, aber es ist vermutlich besser, jetzt nicht darauf herumzureiten. »Kerry wollte ja ins Kino an diesem Abend, aber ich hatte keine Lust. Doch wenn ich mitgegangen wäre, wäre das alles vielleicht gar nicht passiert. Ich meine, dann wäre sie ja nicht allein gewesen …«
»Ja, das mag sein«, sage ich. »Aber du darfst dir nicht die Schuld daran geben. Woher hättest du wissen sollen, was passiert? Und außerdem warst du an diesem Donnerstag schließlich krank.«
Sie schweigt. Nur ihr Schniefen dringt an mein Ohr.
»Was ist denn los, Michele?«, hake ich nach.
»Ich weiß, Sie werden stinksauer auf mich sein …«
Und da verstehe ich. »Du warst gar nicht krank am Donnerstag, stimmt’s?«
»Ja«, kommt es mit erstickter Stimme zurück. »Tut mir wirklich leid.«
Diese verdammte kleine Lügnerin. Donnerstag war im Laden die Hölle los. Der erste wirklich stressige Tag seit Wochen, drei Warenlieferungen und ein Steuerprüfer, der meine Bücher sehen wollte, und ich musste das alles ganz allein bewältigen. Danke, Michele … Aber nichts davon ist jetzt noch wichtig. Ihre beste Freundin wurde ermordet.
»Vergiss es, Michele, das ist doch jetzt überhaupt nicht mehr wichtig«, sage ich. »Du bist ja schließlich nicht die Erste, die mal blaugemacht hat.«
»Ich dachte, Sie
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