Der Novembermörder
dass es sich hierbei um eine ansehnliche Summe handelte, war aus dem Unterton des Artikels zu ersehen. Danach konnte man Richards Karriere zu einem der größten und erfolgreichsten Börsenhändler verfolgen.
Sylvia tauchte nur hier und da in offiziellen Zusammenhängen auf, bei einem königlichen Essen hier und einem Nobelfest dort. Richard war oft auf Bildern von Premieren und bei großen Segelwettkämpfen zu sehen. Immer gab es Frauen um ihn herum. Aber Sylvia war nur selten dabei. Richard hatte eine deutliche Schwäche – eine Schwäche für junge, schöne Frauen. Und er gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Es würde nicht einfach sein, im Gespräch mit Sylvia darauf zu kommen. Aber es war wichtig. Vielleicht ein Motiv?
Jetzt gab es schon zwei für Sylvia: Geld und Untreue. Das Problem war nur, dass sie ihn unmöglich ermordet haben konnte. Man kann nicht unten auf der Straße stehen und gleichzeitig eine Person vom Balkon im fünften Stock schubsen. Aus dem gleichen Grund musste Henrik gestrichen werden. Aber hatte er überhaupt ein Motiv? Ja, Geld. Viel Geld.
Sie beeilte sich beim weiteren Durchblättern. So langsam wurde die Zeit knapp. Plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Überschrift gepackt: »Wird Henrik es schaffen? Die Eltern wachen pausenlos an seiner Seite.« Zu ihrer eigenen Überraschung konnte Irene sich jetzt sogar erinnern. Das war neun Jahre her. Damals war sie Beamtin mit voller Stelle und zwei vierjährigen Kindern gewesen. Es war in die Müllecke der Erinnerungen gestopft worden, wie so vieles andere. Sie breitete die Faxseite auf ihrem Schreibtisch aus und las schnell, dass Henrik und ein Militärkumpel vom Küstenjägerverband eine banale Kinderkrankheit bekommen hatten, die sie in ihrer Kindheit nicht durchgemacht hatten. Jetzt war der Krankheitsverlauf ernst, vor allem bei Henrik. Als Folgekrankheit wurde er von einer Hirnhautentzündung befallen. Als der Artikel geschrieben wurde, lag er bereits zwei Wochen im Koma.
Plötzlich fiel Irene auf, dass etwas nicht stimmte. Im Text stand »die Eltern wachten«, aber auf dem Foto war nur Sylvia zu sehen, die durch die Krankenhaustür ging. Vielleicht wechselten sie sich ja bei der Krankenwache ab? Wenn sich die Gelegenheit bot, wollte sie Sylvia fragen, wie es sich verhalten hatte.
In der folgenden Woche teilte die Zeitschrift mit, dass Henrik aufgewacht war. Ärzte und Eltern schwiegen zu Fragen über seinen Zustand. Richard hatte einem Reporter nur gesagt, dass »Henrik wieder ganz der Alte werden wird!« Danach blieb es still um Henrik in der Presse. Sein Vater wurde wie früher bei den verschiedensten Festen gesehen. Aber auch Sylvia sah man jetzt häufiger. Doch nicht zusammen mit ihrem Mann, sondern in ihrer Eigenschaft als hervorragende Choreografin. Sie inszenierte einige Balletts im Stora teatern, sie erarbeitete zusammen mit dem Cullbergballett ein Stück, und sie hatte im Frühling 1991 ein Gastspiel als Ballettchefin in Helsinki. Im gleichen Sommer zog sie wieder zurück nach Göteborg. Als Grund gab sie selbst »Heimweh« an, aber zwischen den Zeilen waren »Kommunikationsprobleme« im beruflichen Bereich zu erahnen.
Über Henriks und Charlottes Hochzeit gab es nur eine kleine Notiz ohne Foto. Irene hätte sie fast übersehen, da sie unter der Rubrik: »Leute unserer Stadt« stand. In der Mitte dieser Kolumne stand: »Richard und Sylvia von Knechts einziger Sohn Henrik hat sich mit Charlotte, geb. Croona verheiratet. Am zehnten September fand die einfache Zeremonie im Kopenhagener Rathaus statt. Anwesend waren die Eltern des Brautpaars und die Schwester der Braut.« Irene schaute nach der Jahreszahl oben in der Ecke. Es war etwas mehr als drei Jahre her. Sie blätterte, fand aber nichts mehr über Henrik und Charlotte.
Als Letztes warf sie noch einen schnellen Blick auf den Artikel über Richards Fest zu seinem sechzigsten Geburtstag draußen auf der privaten Halbinsel in Bohuslän. Insgesamt dreihundert Gäste waren dort gewesen, der eine oder andere aus dem königlichen Haus, verschiedene bekannte Leute, der Adel der Finanzwelt und der konventionelle Adel waren auch vertreten gewesen. Irene schaute sich nur schnell die Fotos an, den Text würde sie erst später lesen können. Er sah immer noch gut aus. Das Haar grau meliert, voll und mit dem feschen Seitenpony. Er hatte seit den Hochzeitsfotos ein paar Kilos zugenommen, aber es gab kein Zeichen für Verfettung. Seine Haut erschien braun gebrannt gegen den
Weitere Kostenlose Bücher