Der Novembermörder
verloren hatte und nicht mehr wusste, wen sie schon genannt hatte. Irene selbst hatte die Namen notieren können. Es ist gar nicht schlecht, wenn die Befragten abschweifen, dann kann man in Ruhe seine Notizen machen. Irene erbarmte sich und las ab: »Sie haben mir gesagt, dass Ihre Familie dabei war, die Tosses und die Familie Wahl. Wie heißt Ingrid mit Nachnamen?«
»Von Hjortz.«
»Danke. Ich werde Sie noch um die Telefonnummern bitten, bevor ich gehe.«
Sylvia nickte und holte tief Luft, bevor sie weiter ihren Rapport ablieferte: »Meine Mutter, Ritva Montgomery. Sie ist achtundsiebzig Jahre alt. Meine Schwester Arja ist mit ihr zusammen aus Helsinki gekommen. Dann war da Valle Reuter …«
Sie hielt inne. Über ihr Gesicht zog eine Welle unverhohlener Verachtung. Schnell fuhr sie fort: »Das Schönste war, dass Gustav Ceder und seine Frau, Lady Louise, kommen konnten. Ihr Vater ist fast hundert Jahre alt und liegt im Sterben. Sie sind am Freitag gekommen und am Sonntag gegen Mittag wieder zurück nach London geflogen. Wir haben uns seit ihrer Silberhochzeit vor vier Jahren nicht mehr gesehen. Sie konnten nicht zu Richards sechzigstem Geburtstag kommen, weil es ihrem Vater da plötzlich richtig schlecht ging, aber dann hat er sich wieder erholt …«
Plötzlich schwieg sie wieder verwirrt. Verärgert rief sie dann: »Meine Güte, was ich herumplappere! Jetzt habe ich schon wieder den Faden verloren!«
Sie schaute Irene herausfordernd an, die ihr den Gefallen tat und sagte: »Valle Reuter und dann Gustav Ceder mit seiner adligen Frau Louise.«
»Danke. Unser guter Freund Ivan Viktors, der Opernsänger, wissen Sie, war auch da.«
Irene hatte seinen Namen schon einmal gehört, war sich aber nicht sicher, wer er eigentlich war. Offenbar musste man ihn kennen, da doch der Kommissar so begeistert war, als er seinen Namen gehört hatte. Aber der war ja auch ein Opernfan, und das war Irene nicht. Beatles, Rod Stewart und Tina Turner waren eher nach ihrem Geschmack.
»Dann fehlen nur noch Richards beide Cousinen und ihre Männer. Das sind die Tochter von Richards Tante. Sie sind in unserem Alter und waren, wie gesagt, auch auf unserer Hochzeit. Sehr nette Leute, aber wir treffen sie nicht sehr oft. Sie leben beide in Stockholm. Meine Schwiegermutter stammte aus Stockholm. Sie können Namen und Adressen kriegen, wenn Sie wollen«, sagte Sylvia.
Sie drehte sich um und schritt graziös die Stufen zum oberen Stockwerk hinauf. Da sie nichts gesagt hatte, beschloss Irene, ihr zu folgen. Der dicke Teppich dämpfte ihre eiligen Schritte die Treppe hinauf. Oben auf dem Treppenabsatz konnte sie gerade noch sehen, wie Sylvia durch die Tür verschwand, die zu dem Arbeitszimmer führte. Schreibtisch und Computer hatten sie und den Kommissar den falschen Schluss ziehen lassen, dass es Richards Zimmer war. Aber das Ballettplakat bewies eher, dass es Sylvias sein musste. Richard hatte schließlich eine ganze Wohnung als Büro gehabt.
Irene huschte schnell über die weichen Teppiche des Flurs und der Bibliothek. Sylvia hörte sie nicht, sondern sie zuckte zusammen und sprang sogar kurz in die Luft, als sie bemerkte, dass sie nicht allein im Arbeitszimmer war. Irene wunderte sich über diese heftige Reaktion, aber noch mehr über Sylvias Gesichtsausdruck. Sie sah aus, als wäre sie erwischt worden.
Erst im Nachhinein konnte Irene das Bild rekonstruieren, das sich ihr für Sekunden bot: Sylvia, ihre Stirn gegen den Rahmen eines Fotos gelehnt, das neben dem Computer an der Wand hing. Irene ging zögernd weiter ins Zimmer hinein und betrachtete das Bild. Das Foto war in A4-Format, umrahmt von einem breiten Passepartout mit einem schmalen Silberrahmen.
Das Lachen war das Gleiche. Das Funkeln in den Augen, der Ausdruck von Lebensfreude im ganzen Gesicht. Eine fast greifbare, pulsierende Nähe und Sinnlichkeit. Aber es war nicht Richard, sondern Henrik. Das kurz geschnittene Haar und das Käppi, das nonchalant – aber sicher vorschriftswidrig – schräg auf dem Kopf saß, ließ darauf schließen, dass das Foto gemacht worden war, als er seinen Militärdienst absolvierte. Bei der Küstenwache, wie der Zeitungsartikel berichtet hatte.
Sylvia sah Irene mit einem Blick voller Wut und Hass an. Plötzlich begann sie zu weinen. Mit offenen Augen, ohne zu blinzeln. Sie stand einfach da, die Hände hingen hilflos an den Seiten herab. Nicht ein Ton entschlüpfte ihr, aber die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Irene befiel das
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