Der Novembermörder
unangenehme Gefühl, etwas äußerst Persönliches mit anzusehen. Diese unangenehme Szene, die sie selbst unbeabsichtigt heraufbeschworen hatte, musste beendet werden. Voller Schuldgefühl sagte sie: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie wahrscheinlich falsch verstanden, aber ich dachte, ich sollte mit heraufkommen und mir die Adressen aufschreiben.«
Sylvia gab keine Antwort, aber ihre glühende Wut verzog sich. Stattdessen begann sie heftig zu zittern. Impulsiv trat Irene zu ihr, legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zum Schreibtischstuhl. Sylvia von Knecht sank darauf nieder. Immer noch starrte sie vor sich hin. Kaum hörbar flüsterte Sylvia: »Ich bespreche mich immer mit ihm.«
»Mit Henrik?«
Sylvia nickte. Irene spürte eine leichte Verunsicherung. Natürlich besprachen sie sich. Zum einen wohnten sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt, und zum anderen gab es ja wohl genügend Telefone in der Wohnung. Aber sie bekam das diffuse, merkwürdige Gefühl, dass sie in die falsche Richtung dachte. So hatte Sylvia das nicht gemeint. Das hatte etwas mit der kurzen Szene von vorhin zu tun. Anbetung? Zögernd fragte Irene: »Sie meinen, Sie reden mit Henriks Foto?«
Sylvia blickte immer noch starr vor sich hin, als sie nickte. Die Tränen rannen weiter, aber nicht mehr ganz so heftig. War Sylvia wieder kurz vorm Zusammenbruch? Vielleicht war es doch noch zu früh gewesen, sie aus der Psychiatrie zu entlassen. Lieber ging sie es etwas vorsichtiger an. Ruhig fragte Irene: »Antwortet er Ihnen?«
Sylvia richtete sich auf und sagte entschieden: »Dieser Henrik antwortet mir!«
Was meinte sie damit? Irene hatte das Gefühl, sich auf dünnem Eis zu bewegen, das bei jedem Schritt unter ihren Füßen knackte. Schließlich war das die Witwe eines Mordopfers, gerade erst nach einem psychischen Zusammenbruch aus dem Krankenhaus entlassen. Es war wichtig, vorsichtig vorzugehen, da sie immer noch äußerst labil wirkte. Lief Sylvia Gefahr, in eine Psychose zu rutschen? Aber gleichzeitig war es wichtig herauszubekommen, was sie eigentlich mit ihren Worten meinte. Zögernd fragte Irene: ›»Dieser Henrik‹ haben Sie gesagt. Ist das ein anderer als Ihr Sohn Henrik?«
Die Frage war falsch gestellt. Sylvia zuckte verärgert mit den Schultern und fauchte: »Natürlich ist das Henrik. Aber so, wie er einmal war!«
Da fiel bei Irene endlich der Groschen.
»Sie meinen, bevor er krank wurde? Vor der Hirnhautentzündung?«
Sylvia gab ihr ein stummes, langsames Nicken als Antwort.
»Hat er sich nach der schweren Krankheit sehr verändert?«, fuhr Irene fort.
»Ja. Er war achtzehn Tage lang bewusstlos. Als er wieder aufwachte, war er vollkommen verändert. Er hatte Schwierigkeiten zu lesen, zu laufen und bekam schnell Kopfschmerzen, sobald es zu laut wurde. Er zog sich von seinen Freunden zurück. War der Meinung, er könne sowieso nicht mit ihnen mithalten. Schließlich ließen sie auch nichts mehr von sich hören. Genau wie Emelie.«
Sylvia verstummte, und ein schmerzlicher Zug lag um ihren Mund. Leise fragte Irene: »Wer war Emelie?«
»Seine Freundin. Sie hatten sich schon eine Wohnung besorgt und wollten zusammenziehen, wenn er den Militärdienst hinter sich hatte. Viel zu früh meiner Meinung nach. Doch er liebte sie. Aber sie liebte ihn nicht. Das wurde schon in der Zeit deutlich, als Henrik im Krankenhaus lag. Sie verschaffte sich einen neuen Freund, einen alten Kindheitsfreund von beiden. Doppelt betrogen. Ich glaube, das hat ihn letztendlich gebrochen.«
Wieder Hass im Blick. Aber sie redete, und das war die Hauptsache für Irene. Ihr fiel das Foto aus den Zeitschriften ein. die einsame Sylvia, die ins Krankenhaus geht.
»Wie hat Ihr Mann das getragen? Mit Henriks Krankheit?«, fragte sie vorsichtig.
Hass flammte wieder in Sylvias Blick auf. Er war physisch zu spüren, wie ein Schlag ins Gesicht, aber Irene begriff, dass er nicht gegen sie gerichtet war. Sondern gegen Richard. Halb von Tränen ertränkt sagte Sylvia: »Er weigerte sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen! Henrik war nicht krank! Er würde sich schnell von seinen leichten Krämpfen erholen und dann wie früher werden!«
»Aber das wurde er nicht.«
»Nein.«
»Und was geschah dann?«
Sylvias Stimme klang unglaublich müde. Es schien sie alle Kraft der Welt zu kosten, auf diese Frage zu antworten.
»Henrik trainierte und wurde körperlich wieder fit. Aber er war so verändert. Das war nicht mehr unser Henrik. Die Ärzte sagten,
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