Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
mich.«
Tarōs Mutter riss die Augen auf, dann nickte sie.
»Du musst vollkommen still liegen«, fuhr der Ninja fort. »Wir lassen es so aussehen, als seist du tot. Du bleibst liegen, bis es völlig still ist und niemand mehr schreit. Dann stehst du auf und läufst davon. Flieh in ein Kloster, flieh, wohin du willst, solange dich dort niemand kennt. Nimm einen anderen Namen an. Lege ein Schweigegelübde ab. Aber verschwinde . Hast du verstanden? Du wirst deinen Sohn vielleicht nie wiedersehen, aber du wirst weiterleben.«
Sie nickte stumm, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Ninja legte sie auf den Boden, zog ein Stäbchen aus irgendeiner dunkelroten Substanz aus dem Ärmel und zeichnete damit einen Schnitt über ihren Hals. Dann folgte Blut aus einer kleinen Phiole, die unter den Falten seiner Maske verborgen war. Schließlich wandte er sich an Tarō. »Für dich ist sie gestorben. Verstanden?«
Tarō schüttelte den Kopf, und heiße Tränen traten ihm in die Augen.
Der Ninja schlug ihm ins Gesicht. » Willst du, dass sie stirbt?«
Tarō schüttelte erneut den Kopf und konnte nicht aufhören zu weinen. »Ich k-kann sie nicht allein lassen«, murmelte er. Und da war auch noch der Leichnam seines Vaters, der kopflos auf der Schlafmatte lag, auf der er schon so lange geruht hatte, und von Minute zu Minute kälter und steifer wurde. Tarō fand es entsetzlich, was mit seinem Vater geschehen war – wie dieser einst so starke Fischer von einer Krankheit aufs Lager gezwungen und dann von einem Meuchler ermordet worden war, der nicht gezögert hatte, einen Mann im Schlaf zu töten. Würde überhaupt jemand um ihn trauern, wenn Tarō und seine Mutter nicht mehr da waren?
Der Ninja seufzte und schien zu zögern. Dann nahm er einen leichten Stoffbeutel von seiner Schulter, so schwarz wie seine Kleidung, und holte eine Taube mit verschnürten Flügen heraus. Der Vogel gurrte leise, wirkte aber nicht ängstlich. Tarō vermutete, dass dies eine erfahrene Brieftaube war.
»Die hatte ich für den Notfall dabei, aber das hier kann man wohl als Notfall gelten lassen, denn wenn dein Sohn nicht mit mir kommt, werdet ihr beide in wenigen Momenten sterben.« Der Ninja verbarg die Taube im Gewand von Tarōs Mutter. » Wenn du in Sicherheit bist, schreib eine Botschaft an deinen Sohn. Teile ihm mit, wo du bist. Der Vogel wird mich finden.«
»Ich danke Euch«, flüsterte Tarōs Mutter. Der Ninja brummte gereizt, als sei er verärgert über sich selbst, weil er wusste, dass er einen Fehler machte, aber dennoch nicht anders konnte.
Dann warf seine Mutter Tarō einen Blick zu – einen einzigen Blick, in dem all ihre Liebe lag. Tarō hätte beinahe verlegen die Augen niedergeschlagen, denn sie sah ihn an, als wäre er eine Schriftrolle mit den Worten, die ihre Seele retten konnten.
Sie wandte den Kopf. Der Ninja sah Tarō an und seufzte erneut, als er Tarōs Blick zu dem Wandschirm huschen sah, hinter dem der Leichnam seines Vaters lag. »Er ist tot«, sagte der Mann. »Du würdest ihm keine Ehre bringen, indem du ihm nachfolgst.«
»Aber …«, stammelte Tarō. »Ich darf ihn nicht einfach so liegen lassen. Ich sollte seiner Seele helfen, das –«
Der Ninja hob abweisend die Hand. »Hilf seiner Seele, indem du dich an seinen Mördern rächst«, sagte er. »Nicht indem du mit ihm stirbst.«
Tarō nickte wie betäubt. Er warf einen letzten Blick auf den Wandschirm und nahm dann seinen Bogen.
Der Ninja betrachtete die Waffe. »Kannst du damit umgehen?«
Tarō nickte.
»Gut. Es kommen noch mehr. Bald werden wir kämpfen müssen.«
Tarō schaute auf die Leiche hinter seiner vorgeblich toten Mutter und sah dann seinen Retter an. Beide waren gleich gekleidet, in lockere, schwarze Gewänder mit schwarzen Tüchern vor dem Gesicht, die nur die Augen freiließen. »Du gehörst zu ihnen«, sagte er verwundert. »Und doch willst du mich retten.«
»Ja«, entgegnete der Mann schlicht.
»Hast du meinen Vater getötet?«
»Nein. Genug gefragt.« Er zog ein Kurzschwert. Es war weniger elegant als das Katana der Samurai und wirkte brutal, nüchtern und praktisch. Dann hieb er ohne Vorwarnung mit der Klinge auf Tarō ein. Es war eine Falle! Tarō wich zurück, spürte, wie die Klinge seinen Kimono zerschnitt, und hatte nur noch Zeit für den Gedanken: Ich kann jetzt nicht sterben …
… da trat der in Schwarz gekleidete Mann zurück, ein Stück von Tarōs Kittel in der Hand. » Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er,
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