Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Tarōs Besorgnis spürte.
Tarō deutete auf das Boot. »Meine Mutter. Sie ist ganz dicht beim Wrack.« Während er sprach, sah er ihren Kopf aus dem Wasser auftauchen. Sie zog sich in ihr Boot und griff nach den Rudern.
»Bei allen Göttern«, sagte Hirō. »Was tut sie da?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Tarō. »Sie hat mir versprochen, dass sie dort nicht mehr tauchen würde.«
Alle wussten, dass dieser Teil der Bucht gefährlich war – vor allem die Ama. Seine Mutter und ihre Freundinnen hatten Tarō von dem königlichen Schiff erzählt, das vor Jahrhunderten dort gesunken war, und dass dieses Unglück das Wasser verflucht hatte. Sie sprachen von den Gaki, den hungrigen Geistern der Seeleute, die so plötzlich ertrunken waren, dass ihnen der Weg zur Erleuchtung auf ewig verschlossen blieb. So konnten sie ihren ewigen Hunger nur stillen, indem sie andere in die Tiefe zogen, damit sie ertranken, so wie die Geister selbst ertrunken waren.
Die Ama sprachen von einem Riesenkraken, der eine Ama entführt und ihren Leichnam zu seiner Frau gemacht hatte.
Doch vor allem warnten sie vor den gefährlichen, unnatürlichen Strömungen und der Lebensgefahr für jeden, der dort tauchte.
Tarō wandte sich Hirō zu. »Geh du schon nach Hause. Ich will mich erst vergewissern, dass es ihr gut geht.« Er eilte den Hügel hinab zum Strand.
Es war schlimm genug, dass sein Vater im Sterben lag. Da brauchte seine Mutter sich nicht auch noch umzubringen.
Kapitel 3
Tarō beobachtete jede Bewegung seiner Mutter, während sie Reis aufsetzte. Er ließ sie nicht aus den Augen. Er wusste, dass Ama krank werden konnten, wenn sie zu tief tauchten und zu schnell wieder an die Oberfläche kamen, und es gefiel ihm nicht, wie bleich seine Mutter war. In letzter Zeit hatte er ein paar Mal ein dünnes Rinnsal Blut aus ihren Ohren sickern sehen, das sie hastig weggewischt hatte. Sie weigerte sich, seine Fragen darüber zu beantworten. Er fürchtete, sie könnte sogar noch öfter bluten, wenn er es nicht sah. Ama konnten nur eine gewisse Zeitlang tauchen – irgendwann wurden selbst die Kräftigsten unter ihnen taub, oder, schlimmer noch, die Korallen aus dem Meer siedelten sich in ihren Ohren an.
Sie wandte sich ihm zu, und ihre dunklen Augen waren schattige Löcher im trüben Licht der kleinen Hütte. Mit der Glut des Feuers hinter sich wirkte sie gespenstisch, dünn und schwach.
»Ich werde schon nicht zerbrechen«, sagte sie. »Du brauchst dir nicht solche Sorgen um mich zu machen.«
Tarō zuckte mit den Schultern. »Das gefällt mir nicht«, erwiderte er. »Du hast doch gesagt, du würdest nicht mehr in so tiefem Wasser tauchen.« Er sagte nicht oder in der Nähe des Wracks , doch der Vorwurf hing trotzdem zwischen ihnen in der Luft.
»Ich brauchte ein paar Perlen«, erklärte seine Mutter. »Da dein Vater krank ist …«
Tarō warf einen Blick auf ihre Tauchtasche. Er hatte gesehen, wie sie ein paar Seeohren herausgeholt hatte – nicht viele –, aber keine Perlen. »Du hast keine gefunden?«, fragte er.
Seine Mutter blickte hastig auf. »Nein«, sagte sie. »Manchmal nimmt das Meer, ohne dafür zu geben.«
»Was nimmt es?«, fragte Tarō.
Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Nichts, Tarō. Nichts.«
Aber Tarō wusste, dass es nicht nichts war. Das Meer nahm einem vieles, wenn man lange genug in seine Tiefen hinabtauchte: das Gehör, das Sehvermögen und schließlich das Leben. Es arbeitete sich in einen hinein, siedelte Kalk und Salz im Körper ab und machte einen langsam zu einem Felsen oder einem Riff.
Tarōs Mutter beschäftigte sich mit dem Reis, wich seinem Blick aus und wollte offensichtlich weiteren Diskussionen über das Tauchen aus dem Weg gehen. Auf der anderen Seite des Raumteilers konnte Tarō seinen Vater schwer atmen hören. Er ließ seine Mutter einen Moment lang allein und spähte in die Nische, in der sein Vater lag. Der alte Mann schnarchte und bemerkte ihn nicht. Er war nun seit Monaten von seiner Krankheit ans Bett gefesselt, und sein Körper klammerte sich ans Leben, obwohl sein Geist sich anscheinend schon dafür entschieden hatte, die Welt der Menschen zu verlassen. Er lag auf dem Rücken, Mund und Augen weit offen, doch aus seinem Mund kam kein zusammenhängendes Wort mehr, aus den Augen kein Funken des Erkennens oder Begreifens.
Tarō blickte auf den gebrechlichen Körper seines Vaters hinab und konnte nicht glauben, dass dies derselbe Mann war, der ihm das Speerfischen beigebracht
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