Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
groß und gewichtig und unverrückbar wie ein gestrandeter Wal. Dann schüttelte er das Gefühl ab. Nein, er war hier völlig sicher, zusammen mit seinem besten Freund, und so etwas wie Kyūketsuki gab es gar nicht – jedenfalls nicht außerhalb der alten Märchen und Sagen.
Der Rōnin warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorn und versuchte, Hirō aus dem Gleichgewicht zu bringen. Hirō wankte rückwärts, und der Mann stieß einen triumphierenden Schrei aus, der rasch verstummte, als Hirō die Beine anzog, dem Angreifer die Füße gegen die Brust stieß und ihm im Abrollen einen Tritt versetzte, der seinen Gegner über die Straße fliegen ließ. Hirō schnellte wieder auf die Füße, als der Reisende auf ihn losstürmte. Die Demütigung, von einem Bauernochsen in den Staub geworfen zu werden, wich einem Zorn, der ihn unvorsichtig machte.
Der Rōnin sprang hoch und setzte zu einem fliegenden Tritt an, der selbst den stärksten Krieger zu Boden geschleudert hätte. Hirō wich geschickt zur Seite aus, packte den Fuß des Angreifers und verdrehte ihn, so dass der Reisende herumgerissen wurde und zu Boden krachte. Diesmal brauchte er viel länger, um wieder aufzustehen, und als er nah genug herankam, um einen Fesselgriff zu versuchen, drückte Hirō ihn mit Leichtigkeit zu Boden. Der Mann klatschte mit der Handfläche auf die Straße – das bedeutete, dass er sich ergab.
Tarō stand auf und trat an den improvisierten Kampfring. Hirō grinste und begrüßte ihn mit einer Umarmung, die Tarō die Luft aus der Lunge presste.
»Schon gut, großer Mann«, sagte Tarō. »Du brauchst mich nicht gleich umzubringen.«
Hirō ließ ihn los, doch wie immer, wenn Tarōs Schultern unbedeckt waren, huschte Hirōs Blick zu der Narbe, die sich oben um Tarōs Arm herumzog. Dann wandte er rasch den Blick ab, und beide taten so, als hätten sie nichts bemerkt.
Hinter dem breiten Rücken seines Freundes sah Tarō zwei der anderen Rōnin die Köpfe zusammenstecken, dann hörte er das unverkennbare Hiss , als ein Schwert gezogen wurde. Tarō wirbelte zu den Männern herum, zog einen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn an die Sehne, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung. Er zielte auf den nächststehenden Reisenden, der mit halb gezogenem Schwert, überraschtem Gesicht und offenem Mund dastand. »Geht«, befahl Tarō. »Und lasst euren Wetteinsatz hier liegen.« Die Männer zogen säuerliche Mienen, ließen aber einen Beutel voll Geld fallen und gingen die Straße in Richtung Amigaya davon.
»Eines Tages«, sagte Tarō und drehte sich zu Hirō um, »wirst du dich mit dem falschen Rōnin anlegen.«
»So etwas wie einen richtigen Rōnin gibt es gar nicht«, entgegnete Hirō lachend mit seiner tiefen, klangvollen Stimme. Beide Jungen waren glühende Bewunderer der Samurai – adlige, ehrenhafte Krieger und Beschützer der Fürsten, die ebenfalls Samurai waren. Sie waren mit Geschichten von Heldentaten und Ehre aufgewachsen, Geschichten über Samurai, die Heiden und Banditen gleichermaßen besiegten. Oft hatten sie davon gesprochen, dass sie eines Tages gemeinsam das Schwert aufnehmen würden.
Doch Tarō wusste, dass dieser Traum von einem anderen Leben für Hirō ruhig genau das bleiben konnte – ein Traum, der einen vorübergehend bezauberte und dann wieder verschwunden war wie Kirschblüten im Sommer. Obwohl Hirō der Sohn von Flüchtlingen aus dem Binnenland war, gehörte er hierher ans Meer, zum Fischen und Ringen.
Hirō war aus dem Landesinneren gekommen, wo die Bauern stämmiger und schwerer gebaut waren als an der Küste. Dennoch war es Tarō, der sich in seinem eigenen Land wie ein Fremder fühlte. Hirō genoss nur die Vorstellung, eines Tages ein Samurai zu werden. Aber Tarō wünschte es sich von ganzem Herzen.
»Und außerdem«, fuhr Hirō fort, »werden wir ja immer zusammen sein und können uns gegenseitig beschützen, nicht wahr?« Er sah Tarō mit so offenem, unschuldigem Blick an, dass Tarō wegschauen musste. Hirō konnte sich keine Zukunft vorstellen, in der sie nicht die besten Freunde sein und einander beschützen würden. Doch wenn Tarō es in der Welt zu etwas bringen wollte, so fürchtete er, würde er eines Tages das Dorf verlassen müssen. Seine zarten Gesichtszüge wurden von Jahr zu Jahr ausgeprägter und adliger und sonderten ihn von allen anderen ab, sosehr er sich auch bemühte, freundlich zu sein. Hirō mit seinem rötlichen Gesicht und dem stämmigen Körper entsprach viel
Weitere Kostenlose Bücher