Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Die Eltern des Jungen waren ganz sicher tot. Doch er konnte nicht einfach nur herumstehen. Ohne ein weiteres Wort zu dem Jungen vergewisserte er sich, dass sein Messer im Gürtel steckte, dann sprang er erneut in die Wellen und schwamm auf den Fleck zu.
Er fand nichts, doch als er zum Strand zurückschwamm, spürte er etwas Raues gegen seine Seite stoßen. Der Hai umkreiste ihn und schwamm dann mit offenem Maul auf ihn zu. Das Salzwasser brannte in Tarōs offenen Augen, als er das Messer von seinem Gürtel nestelte, und in diesem Moment stieß der Hai gegen seine Schulter und biss zu. Schmerz flammte in seiner Brust auf.
Blut floss wie ein Band aus seiner Wunde in das klare Wasser. Es überraschte ihn, dass er neben dem Schmerz keine Angst empfand. Da war nur eine ungeheure Wut auf diese Bestie, die den Jungen am Strand zum Waisenkind gemacht hatte und nun offenbar auch ihn selbst töten wollte. Schwindlig von der blutenden Wunde und dem Schmerz in seinem Arm riss Tarō beim nächsten Angriff des Hais die Hüfte zur Seite, schlang die Arme um den dicken, rauen Leib und stach mit seinem Messer zu.
Danach konnte Tarō sich an nichts mehr erinnern, aber er musste gekämpft haben wie ein Dämon aus Enma-ōs Hölle, denn sein Vater sagte, der Hai sei zum Schluss so gut wie zerhackt gewesen. Als er tot war – davon wusste Tarō gar nichts mehr, doch Hirō fühlte sich dadurch für immer an Tarō gebunden –, schleppte Tarō den schweren Hai ins flache Wasser und zerrte den Kadaver sogar noch auf den Strand.
Er brach vor Hirō zusammen, fiel auf die Knie und deutete auf den toten Hai. »Da«, sagte er. Dann verlor er das Bewusstsein, und Hirō rannte los und schrie um Hilfe. Erst sieben Tage später wachte Tarō auf und erkundigte sich, wie es dem kleinen Waisenjungen ging.
Inzwischen sprachen die beiden nie mehr von diesem Tag. Hirō hatte die Kieferknochen vor seiner Hütte hängen, Tarō hatte die Narbe an seiner Schulter, und das war alles. Die beiden Jungen waren wie Brüder aufgewachsen, und selbst jetzt, da Hirō ein eigenes Haus hatte, verbrachten sie fast den ganzen Tag zusammen. Tarōs Mutter hatte geweint, als Hirō ihr Haus verlassen hatte; ungeduldig hatte sie im Rauch des Kochfeuers vor ihrem Gesicht herumgewedelt, als sei der die Ursache für ihre Tränen, nicht Hirōs Auszug. Doch ihr Haus war klein für vier Personen, vor allem, wenn eine davon so massig war wie Hirō. Am besten vergalt er ihnen ihre Güte, so erklärte Hirō, indem er ihr Heim wieder ihnen überließ.
Als die beiden Freunde ins Dorf kamen, versank die Sonne hinter den Bergen im Westen und ließ ihre Gipfel erglühen.
»Tja«, sagte Tarō. »Wieder ein Tag vorbei. Was machen wir morgen?«
»Ich habe mir gedacht, dass ich vielleicht ein paar Freunde zum Tee besuchen werde«, antwortete Hirō.
»Aha. Ich wollte mir einen neuen Kimono anfertigen lassen. Ich hatte da an ein Muster aus Pfingstrosenblüten und Vögeln gedacht. Dann sollte ich wohl meinen Waffenschmied aufsuchen und mein neues Katana abholen.«
Nichts von alledem würde wirklich geschehen. Tarō würde den nächsten Tag bei der Jagd mit dem Bogen verbringen und Hirō beim Ringen mit Fremden, wie immer.
Tarō und Hirō gingen an den Holzhäusern des Dorfes vorbei. Licht fiel durch die Papierfenster auf den von der Sonne ausgedorrten Boden. Doch aus der Hütte, in der Tarō mit seinen Eltern wohnte, drang kein Lichtschein, und als er näher kam, runzelte er die Stirn. Seine Mutter müsste längst wieder da sein, um das Feuer zu schüren und sich um das Essen zu kümmern. Er hatte sich darauf gefreut, ihr seine Kaninchen zu zeigen.
Tarō ließ den Blick über die Bucht schweifen und suchte nach den Umrissen der Ama, die sich schwarz vor dem jetzt dunklen Wasser abhoben. Als er das Boot sah, stieß er ein Seufzen aus. Er konnte das kleine Boot seiner Mutter drüben auf der Nordseite der Bucht erkennen, unter dem Felsvorsprung, auf dem ein uraltes rotes Torii vor einem Schrein stand, dessen geschwungenes Dach an einen Drachenrücken erinnerte. Die anderen Ama waren nirgendwo zu sehen – vielleicht tauchten sie auf der anderen Seite des Felsvorsprungs in der Nähe des anderen Schreins. Dort wurde die Prinzessin der Verborgenen Wasser verehrt, die alle Ama vor Unheil schützte.
Doch selbst die Prinzessin der Verborgenen Wasser würde Tarōs Mutter nicht helfen können, wenn sie an dieser Stelle der Bucht in Schwierigkeiten geriet.
»Was ist?«, fragte Hirō, der
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