Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
sich schon beruhigen.«
Shūsaku nickte. »Geh. Aber seid vor Sonnenuntergang zurück.«
»Sie war sowieso schon wütend, weil ich vor ihr zum Vampir gemacht wurde«, sagte Tarō. »Jetzt wird sie mich hassen.«
»Nein«, erwiderte Shūsaku. »Sie hat ein gutes Herz, aber einen hitzigen Kopf. Sie wird dir verzeihen. Wie Heikō sagte, weiß sie im Grunde, dass es nicht deine Schuld ist. Sie braucht nur jemanden, den sie dafür verantwortlich machen kann – zumindest im Moment.«
Tarō kannte dieses Gefühl. Er konnte sich daran erinnern, wie er den Zorn über den Tod seines Vaters gegen den Ninja gelenkt hatte, der hier vor ihm saß – er hatte ihm seinen Mangel an Ehre und seine skrupellose Haltung vorgeworfen. Und jetzt mochte er Shūsaku, nicht wahr?
Ja, gewiss würde Yukiko erkennen, dass er, Tarō, bei alledem nur eine einzelne Spielfigur auf diesem Brett war, ein Bauer, der von den mächtigen Fürsten herumgeschoben wurde.
Shūsaku spuckte ins Feuer. »Es gibt vieles, was wir uns vorwerfen könnten, aber wenn wir uns für alles Schlechte, das geschieht, verantwortlich fühlen, treiben wir uns selbst in den Wahnsinn. Ist die Äbtissin tot? Wir wissen es nicht. Hätte sie vielleicht länger gelebt, wenn wir sie nicht besucht hätten? Möglicherweise. Aber wir haben sie nicht getötet.«
Tarō nickte. Das stimmte, machte die Schuldgefühle aber nicht leichter zu ertragen.
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Dann griff Shūsaku nach Tarōs Bogen und drehte ihn in den Händen herum. »Ihr Götter«, sagte er schließlich. » Wie dumm von mir, das nicht zu bemerken. Ich habe mich ja gefragt, wie ein Junge in einem so kleinen Dorf an ein derart prächtiges Stück gekommen ist. Aber ich habe angenommen, dein Vater sei ein sehr geschickter Handwerker gewesen.«
»Aber mein Vater hat ihn gar nicht gemacht, oder?«
Shūsaku untersuchte den Bogen, strich mit den Fingern über den Griff und betrachtete das Mon. »Nein. Ich vermute, Fürst Tokugawa hat ihn selbst geschnitzt. Er ist sehr gut darin. Im Gegensatz zu den meisten anderen Adligen legt er Wert darauf, die Arbeit zu verstehen, die seine Untertanen verrichten. Nur, wenn man das alltägliche Leben seiner Bauern und Soldaten kennt, darf man hoffen, sie gut zu regieren.« Shūsaku sprach voller Bewunderung, und es war offensichtlich, dass er immer noch höchste Achtung vor dem Daimyō Tokugawa hatte. »Er wollte dir wahrscheinlich ein Symbol deiner Abstammung schenken. Etwas, woran man dich als Tokugawa erkennen könnte, falls – wenn – er dich brauchen würde.«
Tarō versuchte, das zu verstehen. » Weshalb sollte er mich brauchen? Warum hat er mich überhaupt versteckt?«
»Ist das nicht offensichtlich? Du bist sein Erbe. Fürst Tokugawa hat dich zu deinem eigenen Schutz versteckt. Es kommt häufig vor, dass diejenigen Fürsten, die gerade um das Shōgunat wetteifern, die Söhne ihrer Gegner als Geiseln nehmen. Daimyō Tokugawas jüngerer Sohn ist zur Zeit Fürst Odas Gast, auf dessen Burg. Er ist dort in Begleitung seiner Mutter, Daimyō Tokugawas Frau. Das bedeutet: Von den zwei als Erben anerkannten Söhnen des Fürsten Tokugawa befindet sich einer als Geisel auf der Burg seines ärgsten Feindes, und der andere ist –«
»Tot.«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Ich … ich habe gehört, wie die Äbtissin dir davon erzählt hat. Ich war im Garten, als ihr euch unterhalten habt.«
Shūsaku nickte. »Gut. Du hast den Instinkt eines wahren Ninja!« Er lachte.
Tarō schnappte nach Luft, als ihm etwas einfiel. »Daimyō Tokugawas Frau – die jetzt bei Daimyō Oda lebt. Ist sie meine Mutter?«
Shūsaku machte eine ausweichende Geste. »Das scheint gut möglich. Aber ein Daimyō kann zum Erben ernennen, wen er will, und mit so vielen Konkubinen Söhne zeugen, wie es ihm beliebt.«
Tarō brummte. Die Mutter, bei der er aufgewachsen war, würde ohnehin immer seine wahre Mutter bleiben. Sollten Fürst Tokugawa und seine Konkubinen doch weiter hinter den Mauern ihrer Burg sitzen. Tarō würde sich mit Shūsaku auf die Suche nach seiner Mutter machen, und dann würde er sich an allen rächen, die ihm sein friedliches Leben gestohlen hatten.
»Also«, fuhr Shūsaku fort. »Einer von Fürst Tokugawas Söhnen ist eine Geisel. Der andere ist tot. Aber der Daimyō hat die kluge Vorsichtsmaßnahme getroffen, einen weiteren Sohn in einem kleinen Dorf bei Leuten zu verstecken, denen er vertrauen konnte. Den mittleren Sohn – von dem
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