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Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)

Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)

Titel: Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Lake
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Sie schluckte nervös. »Ich weiß, du wolltest nicht, dass …«, begann sie. Sie senkte den Kopf, und eine Träne glitzerte an ihren dichten, dunklen Wimpern.
    »Ich weiß«, sagte er. »Und ich kann verstehen, dass du wütend warst.«
    Sie nickte. »Danke.« Dann wandte sie sich ab und sammelte ihre Sachen ein. Die Sonne versank gerade hinter dem Horizont, und Shūsaku drängte darauf, dass sie den Berg so bald wie möglich erreichen mussten.
    Als sie das Tal empor auf den heiligen Berg zugingen, ließ Tarō sich zurückfallen. Der Wald, der sie umgab, schien aus dem Reinen Land zu stammen. Elegant gewundene Bäume erhoben sich auf allen Seiten aus weichem, sattgrünem Moos. Grasbüschel waren dazwischen verteilt, von denen einige grinsende, in Stein gehauene Gesichter enthüllten, vor allem in der Nähe von Bächen oder ungewöhnlich großen Bäumen  – Kami, zum Schutz des Waldes von den Bewohnern naher Dörfer aufgestellt.
    Tarō versuchte sich das Gesicht seines Vaters zu vergegenwärtigen, es wie einen Scherenschnitt auf einen Wandschirm zu projizieren, der vor seinem inneren Auge schimmernd und transparent vor den Bäumen und dem Moos hing. Doch genau wie bei einer Schattenspielfigur waren die Züge seines Vaters dunkel, grob umrissen, nicht zu erkennen. Tarō verzog das Gesicht und konzentrierte sich stärker.
    Seine Augen hatten recht weit auseinandergestanden, nicht wahr?
    Sein Mund hatte stets gelächelt.
    Nein.
    Seine Augen waren schmal, katzenhaft –
    Tarō fluchte. Der Tod hatte seinen Vater in Fetzen gerissen wie ein Stück Aas. Da war eine Hand, an die er sich deutlich erinnerte und auf der Sehnen und Adern wie Flüsse auf einer Karte erschienen. Ein Ohr, muschelförmig. Doch das Ganze war nicht mehr da, es war in Stücke zerrissen, und Tarō konnte sie nicht wieder zusammensetzen. Es gelang ihm nicht, sich seinen Vater im Ganzen vorzustellen, so, wie er im Leben gewesen war.
    Während Tarō noch versuchte, sich auf das flüchtige Bild zu konzentrieren, das von seiner geistigen Anstrengung wackelte, wurde es durch ein anderes Bild ersetzt. Ein Mann in einem kostbaren Gewand mit dem Helm eines Samurai-Kriegers und einem Kimono, bestickt mit dem Malvenblätter-Mon.
    Fürst Tokugawa.
    Tarō hatte den Mann noch nie im Leben gesehen, und dennoch vertrieb sein Bild das seines anderen Vaters so leicht, wie ein Mönch einen Geist verbannte. Tarō spuckte auf den Boden, richtete den Blick auf die Bäume und ihre Wurzeln, die den Boden unter seinen Füßen gesprengt hatten, und beschleunigte seine Schritte.
    Der Papierschirm in seinem Kopf zitterte und wurde dunkel. Doch dann stieg ein anderes Bild in ihm empor, völlig ungebeten  – das Mädchen, das sie gerettet hatten und das ihm den Ring geschenkt hatte. Er verfluchte seine eigenen Gedanken. Sie war nur ein weiterer unerfüllbarer Traum, der ihn verhöhnte, denn seine Bewunderung für sie, ihren Mut und ihre Schönheit war ebenso sinnlos wie seine Neugier auf Tokugawa oder die Trauer über den Tod seines Vaters.
    Denn das hier war die Wirklichkeit, nicht die märchenhafte Welt aus Heikōs Geschichten. Ganz gleich, was er für seinen Vater empfand, nichts würde ihn aus dem Reinen Land zurückholen. Und nichts konnte bewirken, dass Tarō eines Tages vor dem Fürsten Tokugawa stehen und als dessen verlorener Sohn und wahrer Erbe anerkannt werden würde. Er war ein Vampir und, schlimmer noch, ein Bauer. Er hätte ebenso gut von einem Spaziergang über den Nachthimmel bis zum Mond träumen können wie von diesem wunderschönen Mädchen.
    Er drehte den Ring an seinem Finger und empfand den Druck an seiner Haut als Hohn. Aber er wollte ihn auch nicht ablegen, weil er sonst gar nichts von dem Mädchen hätte sehen und spüren können.
    Er kannte nicht einmal ihren Namen.
    Er fühlte den Bogen an seiner Schulter, dessen Gewicht ihm auf einmal unerträglich vorkam. Er war ein allzu greifbares Symbol für die Veränderung, die über ihn hereingebrochen war. Früher war er immer der Bogen gewesen, den sein Vater für ihn gemacht hatte, mit einem Blattmotiv verziert. Jetzt jedoch war es ein Tokugawa-Bogen, der magische Gegenstand, der ihm mitgegeben worden war, damit man ihn als Fürstensohn identifizieren konnte. Es war, als hätte man ihm den vertrauten Gegenstand weggenommen und als fremdes, völlig verändertes Ding zurückgegeben.
    In Gedanken war er nun ganz bei dem Bogen auf seiner Schulter, nicht bei den Wurzeln und Steinen unter seinen Füßen, und

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