Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
ist doch nur ein Nussknacker«, sagte eine ebenfalls ganz in Weiß gekleidete Frau. Es war eine Krankenschwester, die jetzt mit freundlichem Gesicht und gefälliger Stimme neben dem Bett auftauchte.
Was heißt hier nur? , dachte ich. Dem Jungen schien es völlig egal zu sein. Er verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze und bestand darauf, dass die Schwester mich vom Nachttisch nahm.
»Aber der gehört doch dir«, versuchte sie einen letzten Anlauf, wobei sie mich hochhob.
Der Junge schüttelte vehement den bandagierten Kopf.
Er hatte natürlich recht. Ihm gehörte ich auf keinen Fall. Ich wollte ihm auch gar nicht gehören. Wie ich hierhergekommen war, war mir schleierhaft. Wieso war ich nicht bei Hannah oder Betty, sondern bei diesem ängstlichen Jungen, dem ein harmloser Nussknacker solche Angst einjagte?
Es muss irgendwie mit dem Unfall zu tun haben , dachte ich.
»Na, dann komm mal mit.« Die Krankenschwester steckte mich in ihre Kittelschürze und verließ das Krankenzimmer.
Nicht viel später hing ich in demselben Kittel an einem Haken. Und zwar ziemlich lange.
Ich glaube, die Krankenschwester hatte mich vergessen. Mir kam es jedenfalls so vor, als hätte ich tagelang in der Kitteltasche gesteckt. Der Kittel hing, neben anderen Kitteln und Schürzen, an einem Haken im Schwesternzimmer.
Bis sich eines Tages ein Junge hinter den Kitteln an der Garderobe versteckte. Es erinnerte mich an Emilie und Leo, die sich vor vielen, vielen Jahren im Romanischen Café in Berlin hinter den Mänteln am Garderobenständer versteckt hatten.
Es kam, wie es kommen musste. Der Junge entdeckte mich. Er zog mich aus der Tasche, musterte mich erstaunt und ließ mich flugs unter seinem T-Shirt verschwinden.
»He, was tust du da?« Die Stimme gehörte zu einer Hand, die Hand zu einer Krankenschwester. Sie packte den Jungenresolut an der Schulter und zog ihn hinter den Kitteln hervor. »Das ist kein Spielplatz! Raus hier, Freundchen.«
Währenddessen irrte die Mutter des Jungen auf den Krankenhausfluren umher, auf der Suche nach ihrem ausgerissenen Sprössling.
»Heiko!«, rief sie.
Dann sah sie ihn aus dem Schwesternzimmer kommen. Doch die auf kommende Freude schlug sofort in Argwohn um.
»Heiko, wo hast du denn gesteckt? Ich habe dich überall gesucht. Komm, wir gehen.«
Die Frau zerrte den Jungen an der Hand hinter sich her wie eine Mülltonne mit kaputten Rädern.
* * *
Heiko war ein seltsamer Kerl. Lange würde ich nicht bei ihm bleiben, das erkannte ich sofort. Und tatsächlich, schon am nächsten Tag schenkte er mich einem Mädchen in seinem Alter, das einen schwarzen Pferdeschwanz und ein Gesicht wie eine Puppe hatte. Heiko wollte das Mädchen wohl damit beeindrucken, hatte sich aber total vergriffen. Ich passe einfach nicht zu Mädchen mit Puppengesichtern.
Das Mädchen musterte mich, als wäre ich kein Nussknacker, sondern ein lebloses, vergammeltes Stück Holz.
»Willst du?« Der Junge strahlte, als würde er ihr eine lebensgroße Puppenstube als Eigenheim anbieten.
Das Mädchen sah den Jungen an, als wäre der nicht ganz dicht. Oder zumindest aus einer anderen Welt, in der Puppen, Puppengesichter und Puppenstuben keine Rolle spielten. Aus einer Welt für Dummköpfe also, für Langeweiler und Hässliche.Trotzdem nickte sie. Wahrscheinlich mehr aus Höflichkeit denn aus Überzeugung.
Ihr Zimmer war voller Ramsch und Spielzeug und sah ebenfalls so aus, als wäre es aus einer anderen Welt, einer Welt des Schönen und Makellosen, aber auch Künstlichen. Aus einer Welt des perfekten Scheins, in der es vor allem Puppen gab, darunter Barbiepuppen aus Plastik, die frisiert waren, alle Gliedmaßen bewegen konnten und perfekter aussahen als jeder normale Mensch. So sah höchstens jemand aus, wenn er jede Menge Operationen hinter sich hatte, die seiner Schönheit auf die Sprünge halfen.
Ich hatte im Leben des Mädchens keinen Platz. Worüber ich ganz froh war, wenn ich ehrlich sein soll. Ich wollte in dieser Parallelwelt aus Puppen, Kitsch und Mummenschanz keinen Platz haben. Dass das Mädchen mich dann aber auf dem Speicher in einer Kiste entsorgte, in der nur Dinge lagen, die niemand mehr brauchte, freute mich ganz und gar nicht. Es war eine Art Friedhof der Kuscheltiere, auf dem es aber nicht nur ausrangierte Plüschtiere gab, sondern auch alte Kaffeemaschinen, ein Radiogerät, Büroordner, Bücher, zerlesene Comics, ein Bügeleisen, Teile einer Modelleisenbahn, eine Wärmflasche und anderer Krempel.
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