Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
nach Hause, da Nora vom vielen Laufen schon Blasen an den Füßen hatte.
Auch zu Hause wurde über die Vorgänge und die umstürze in der Stadt hitzig diskutiert.
»Was hat der ganze Aufruhr zu bedeuten?«, fragte Liesel, wieder ein wenig versöhnt, ihren Bruder.
Sie war beunruhigt und schien völlig ahnungslos zu sein. Erich dagegen wusste bestens über die Aufstände in der Stadt Bescheid. Er hielt sich den ganzen Tag bei den Versammlungen auf. Er war bei der Demonstration auf der Theresienwiese dabei und später auch im Mathäserbräu, wo die Zukunft Bayerns beredet wurde. Er hielt sich auch im Landtagsgebäude auf, als spät in der Nacht die Republik ausgerufen und der kleine, schmächtige Mann mit dem wirren Bart zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. Erich notierte alles, um es wenig später in den besetzten Zeitungsredaktionen zu veröffentlichen, damit auch die Leute informiert wurden, die nicht direkt dabei waren. Sophie war meistens an Erichs Seite und fotografierte alles.
Jetzt stand Sophie im verdunkelten Bad und entwickelte die Fotos. Erich warf die Zeitung auf den Tisch.
»Da, lies!«
Während Liesels Blicke nervös über die Zeilen huschten, wobei sie immer wieder verwundert den Kopf schüttelte, redete Erich begeistert auf sie ein.
»Die Regierung ist gestürzt! Eisner ist jetzt Präsident! Bayern wird eine Räterepublik.«
Liesel guckte von der Zeitung auf und fragte zweiflerisch: »Und was soll das sein, wenn ich fragen darf ?«
»Jetzt bestimmen nicht mehr die Adeligen und der König über uns«, sagte Erich. »Jetzt bestimmen wir, die Arbeiter und Bauern. Die Arbeiter schließen sich zu Arbeiterräten zusammen,die Bauern zu Bauernräten und die Soldaten zu Soldatenräten. Die Macht ist jetzt bei uns.«
»Bei mir auch?«, fragte Nora.
»Klar, mein Engel!«
Erich küsste seine Tochter. Er hob sie hoch, sodass sie sich dagegen wehrte und schrie: »Nicht, Papa, lass das!«
»Jetzt haben wir wieder eine echte Zukunft!« Erich setzte seine Tochter wieder ab.
»Was ist echte Zukunft?«, fragte Nora.
Gute Frage , dachte ich und zerbrach mir selbst den Kopf darüber.
Auch Erich schaute das erste Mal nachdenklich und runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Wenn es uns allen besser geht als jetzt. Wenn es wieder genügend zu essen gibt. Wenn dieser verdammte Krieg endlich zu Ende ist und wenn die Menschen wieder friedlich miteinander leben können.«
»Und dafür sorgt dieser Mann mit dem strubbeligen Bart?«
»Klar, der und wir.«
»Du auch?«, fragte Nora.
Erich nickte.
»Und Sophie?«
Erich nickte abermals.
»Und der Nussknacker.«
Erich schaute mich an.
»Und Liesel?«
»Liesel auch!«, sagte Erich entschlossen und lächelte.
Liesel schüttelte energisch den Kopf. »Revolution ist nichts für mich, da bin ich schon zu alt für.«
»Für ein besseres Leben ist man nie zu alt«, sagte Erich und lachte, während Liesel noch immer böse in die Zeitung blickte.
»Schaut euch das an!« Sophie kam in die Küche. Sie legte einen Stapel noch feuchter Fotos auf den Küchentisch.
»Da bin ich!« Nora zeigte auf eines der Bilder, auf dem sie inmitten der Menge zu sehen war, mit mir in der Hand.
»Und dein Nussknacker«, sagte Sophie und schaute mich mit einem Blick an, als dächte sie jetzt an Paul. Oder August. Oder an beide.
Doch das kurzzeitige Hochgefühl war bald wieder dahin. Es kam anders als erwartet.
»Kurt Eisner ist tot«, sagte Erich. Sophie wollte es nicht glauben.
»Sie haben ihn umgebracht, hinterrücks erschossen!«
Überall waren jetzt Bewaffnete in der Stadt unterwegs. Viele wollten den beim Volk sehr beliebten Kurt Eisner rächen und waren außer sich vor Wut. Es gab wilde Schießereien, Verhaftungen, Plünderungen und Prügeleien. Generalstreiks waren an der Tagesordnung. Die Stadt erlebte einen Belagerungszustand und versank im Chaos. Stürmische Zeiten brachen an.
Bürgerkrieg. Auch Erich war kaum mehr zu Hause und ständig auf den Straßen unterwegs, bis er schließlich bei den Auseinandersetzungen mit den Regierungstruppen lebensgefährlich verletzt wurde. Sophie und Liesel kümmerten sich aufopferungsvoll um ihn. Mir schien, dass die beiden sich endlich ein wenig annäherten und sich das anfängliche Missbehagen zwischen ihnen legte.
* * *
Als am 5. April 1919 die Münchner Räterepublik ausgerufen wurde, mussten wir von der großen Wohnung in Schwabing in eine viel kleinere nach Haidhausen umziehen.
Erichs Zustand wurde nicht besser. Er lag den ganzen
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