Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
braucht.«
»Soll sich doch diese Sophie …«
»Sophie ist kein Ersatz für dich, Liesel. Sophie ist meine Freundin, begreif das endlich!«
So ging es noch eine Zeit lang weiter, bis Liesel aus dem Arbeitszimmer rannte und sich in ihrer Kammer einschloss. Vorher ließ sie aber noch die Tür so laut ins Schloss fallen, dass es krachte.
»Liesel ist eifersüchtig«, sagte Nora. »Das kommt öfters vor.«
Und du? , wollte ich fragen. Wie steht es mit dir?
»Ich hab doch dich.« Nora grinste mich frech an. »Die regt sich schon wieder ab.«
Liesel blieb noch ein paar Tage eingeschnappt und sprach kaum ein Wort. Wenn sie von der Arbeit in der Schraubenfabrik zurück war und sich nicht gerade um Nora kümmerte, schloss sie sich in ihr Zimmer ein und machte auch nicht auf, wenn Erich am Abend klopfte. Nur wenn alle bis auf Nora aus dem Haus waren, zeigte sie sich. Zu mir hatte Liesel von Anfang an ein gespanntes Verhältnis. Immer wenn sie mir näher kam, hatte ich das Gefühl, sie führe etwas Böses im Schilde. Nora schien Ähnliches zu denken.
Als Liesel mich in einem – wie sie glaubte – unbeobachteten Moment am Kopf packte, um mich aus dem Fenster zu werfen oder anderweitig zu entsorgen, kam zum Glück Nora ins Zimmer, ging dazwischen und schrie: »Lass meinen Nussknacker in Ruhe!«
Liesel ließ mich los und tat so, als könne sie keiner Fliege was zuleide tun, geschweige denn einem Nussknacker. Ich aber war gewarnt, und Nora ebenfalls. Sie ließ mich von da an nicht mehr aus den Augen und nahm mich überallhin mit.
* * *
Nicht nur zu Hause war dicke Luft, auch in der Stadt brodelte es. In diesem Herbst 1918 bahnte sich Außerordentliches an.
Als ich mit Nora, die sich mal wieder heimlich Liesels Obhut entzog, zur Theresienwiese spazierte, herrschte dort hektisches Treiben. Tausende von Menschen – Bauern, Landarbeiter, Soldaten, Matrosen, Knechte und Mägde – rannten aufgeregt umher. Sie hielten Schilder hoch, auf denen Weg mit dem Adel! und Revolution! stand. Oder sie schwenkten rote Fahnen und riefen: »Nieder mit der Monarchie!« und »Nieder mit der Militärherrschaft!«
Eine Arbeiterblaskapelle spielte. Es ging zu wie auf einem Volksfest. Immer mehr Menschen strömten aus allen Richtungen herbei. Flugblätter wurden verteilt, auf denen Es lebe die Revolution! stand. Es war eine aufgekratzte, zwischen Fröhlichkeit und Ernsthaftigkeit wechselnde Stimmung. Immer wieder brandeten Jubel und Applaus auf, wenn einer der Redner auf einen Tisch stieg und den Versammelten laut aus dem Herzen sprach. Als dann ein kleiner älterer Mann mit strubbeligem Bart und Brille das Wort ergriff, konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Der Mann stand auf einem Tisch und wurde begeistert von den Massen bejubelt.
»Das ist der Eisner!«, sagte jemand voller Bewunderung.
»Und was will der?«, fragte ein anderer, der die Worte des Redners in dem Lärm offenbar nicht verstehen konnte.
»Einen Neuanfang. Die Macht soll endlich vom Volk ausgehen, von den Arbeitern und Bauern, von uns, verstehst du? und dass dieser Krieg endlich zu Ende geht und Frieden herrscht!«
»Bravo!«, riefen einige Leute lautstark, sodass noch weniger zu hören war.
»Aber das ist doch in Bayern mit dem König und der Regierung nicht zu machen.«
»Dann müssen König und Regierung eben weg, wie es in anderen Teilen Deutschlands schon geschehen ist.«
»Das ist ja dann eine Revolution!«
»Na und? Anders geht’s eben nicht.«
Als wäre es ein Stichwort, hallte die Aufforderung des Redners über die Theresienwiese: »Zu den Kasernen!«
Die Leute schlossen sich zu einem langen Demonstrationszug zusammen. Langsam setzten sie sich in Bewegung, begleitet von wehenden Fahnen und Sprechchören. Es waren Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder, denen jetzt aus den Fenstern in den Straßen, durch die der Zug sich langsam schlängelte, zugewunken wurde. Gegenüber der Hackerbrücke an der Kaserne hielt der Demonstrationszug. Transparente wurden entrollt, auf denen »Nicht schießen!« stand. Niemand wusste, was jetzt geschehen würde. Ob die in der Kaserne stationierten Soldaten das Feuer eröffneten? Hatte man ihnen befohlen, den Aufstand niederzuschlagen? Doch nichts passierte. Bis schließlich das Kasernentor aufging, die Soldaten die Waffen niederlegten und sich den Demonstranten anschlossen.
Jubel brach aus. Die Blaskapelle spielte wieder. Der Demonstrationszug zog zur nächsten Kaserne weiter, doch Nora und ich gingen
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