Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
alles.«
Dr. Kahlenberg schürzte den Mund und beugte sich leicht nach vorne. Es war kaum zu bemerken, aber mir entging es nicht.
Schleimer , dachte ich und fand mich auch schon in der Hand von Sophie wieder.
»Dieser Nussknacker«, sagte sie und strich mir zärtlich über den Bauch, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, »entstand vor einigen Jahren im Umfeld der Künstlergruppe ›Der gelbe Nussknacker‹.«
Sie wartete auf eine Reaktion des Doktors. Als nichts kam, fuhr sie fort: »Wäre es möglich, dass Sie, mein lieber Doktor,dieses Prachtstück nach Berlin mitnehmen? Vielleicht findet sich ein Galerist, ein Käufer oder ein anderer Interessent.«
Nora verließ das Zimmer. Feigling , dachte ich.
Dr. Kahlenberg betrachtete mich jetzt aufmerksam. Er kniff leicht die Augen zusammen, setzte erneut sein Monokel auf und rümpfte fast unmerklich die Nase. Ich wusste sofort, dass er noch nie im Leben auch nur ein einziges Wort über mich gehört hatte. Er war völlig ahnungslos und versuchte, diese unwissenheit zu überspielen.
»Ah, ›Der gelbe Nussknacker‹! Interessant, sehr interessant«, murmelte er und tat so, als wären wir alte Bekannte.
Na los, nimm mich schon mit , dachte ich, dann bin ich endlich weg von hier . Auch wenn ich nur sehr ungern mit diesem schmierigen Doktor auf Reisen gehen wollte. Hier in München, bei Nora und Sophie, hatte ich aber keine Zukunft mehr, das war mir schon lange klar.
»Wenn Sie meinen, Verehrteste. Auf Kommission könnte ich ihn mitnehmen. Aber ich kann Ihnen keinen Verkaufserfolg versprechen.«
»Das müssen Sie auch nicht. Sie wissen ja, mein lieber Dr. Kahlenberg, ich habe vollstes Vertrauen zu Ihnen und schätze Ihre Kompetenz über alles.«
Dr. Kahlenberg wurde ein wenig rot im Gesicht und strich sich wieder zärtlich über seinen Backenbart.
»Vielen Dank, Gnädigste. Ich hoffe, Sie nicht enttäuschen zu müssen.«
Er steckte mich zu den Zeichnungen in seine braune Ledertasche, griff gleichzeitig wieder nach Sophies Hand und bearbeitete ihren Handrücken mit seinem Mund.
1924 – 1929, Berlin, Deutschland
Ich lag im geöffneten Koffer, verdeckt von Zeichnungen, auf einem Stuhl, und hörte viele Stimmen durcheinanderreden, dazu das Scheppern von Geschirr und Gläserklirren. Es musste eine Gaststätte sein, ein Café. Dr. Kahlenberg redete seit geraumer Zeit mit blumigen Worten auf eine Frau ein, die hin und wieder mürrisch und kurz angebunden konterte. Woraufhin Dr. Kahlenberg noch eine Schippe Schleim zulegte, sodass die ganze Gaststätte im glibberigen Brei davonzuschwimmen drohte.
Ich hörte dieser schnarrenden Stimme schon lange nicht mehr richtig zu. Dafür merkte ich, wie mich plötzlich eine kleine Hand umfasste, rasch aus dem Koffer unter den Zeichnungen hervorzerrte und unter einem kratzigen Pullover in einem Hosenbund versteckte. Es ging blitzschnell, ohne dass der olle Doktor und die am Tisch sitzende Frau etwas bemerken konnten. Noch während ich mich fragte, in wessen Hoseich da gelandet war und wer zu dieser kleinen Hand gehörte, vernahm ich die lauter werdende Stimme von Dr. Kahlenberg. »Haben Sie vielleicht einen gelben Nussknacker gesehen?«
»Einen gelben Nussknacker?«, kam von der Frau.
»Ja.«
»Gelbe Nussknacker gibt’s doch gar nicht.«
»Doch … nein, ich meine, das ist natürlich kein richtiger Nussknacker. Es ist ein Kunstwerk. Etwas Einzigartiges, Neues. Schon mal von der Künstlergruppe ›Der gelbe Nussknacker‹ gehört?«
Die Frau mit der feschen Kurzhaarfrisur schüttelte den Kopf. Ich konnte es durch den grobmaschigen Pullover genau erkennen.
»Aber ›Der blaue Reiter‹ ist Ihnen ein Begriff ?«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich habe ein Dutzend Werke davon.«
Der Mann errötete. »Entschuldigen Sie vielmals, Gnädigste!«
»Gnädigste? Ich bitte Sie, so viel unterwürfigkeit ist nicht nötig. Sie wollen ja doch nur Ihr völlig überteuertes Zeug verkaufen, oder?«
Ganz schön resolut die Dame , dachte ich.
Dr. Kahlenberg war sichtlich irritiert. Er strich verlegen über seinen Backenbart und schien nachzudenken.
»Ich hatte ihn hier in diesem Koffer«, murmelte er vor sich hin. »Ich bin mir ganz sicher. Ich wurde von einer Kunstexpertin beauftragt, Ihnen den Nussknacker zu zeigen. Und jetzt ist er weg.«
»Leonhard?«
»Ja, Mama, zur Stelle! Was gibt’s?«, sagte der Junge, der offenbar die ganze Zeit keine zwei Schritte vom Tisch seinerMutter entfernt gestanden und mich in dem
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