Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
unbeobachteten Moment in seiner Hose versteckt hatte, zwischen Bauch und Hosenbund.
»Leonhard, hast du einen gelben Nussknacker gesehen?«
»Einen gelben Nussknacker?«, fragte der Junge verwundert. »So was gibt es doch gar nicht.«
Die Mutter warf einen amüsierten Blick zu Doktor Kahlenberg, der wieder ein wenig rot wurde.
»Wenn er mir über den Weg läuft, sag ich Bescheid, Mama!« Leonhard sagte es fast beiläufig und entfernte sich rückwärts mit kleinen Trippelschritten.
»Ist gut, Leonhard.«
Der kann vielleicht schwindeln , dachte ich und fühlte mich langsam ein wenig eingeengt in seinem Hosenbund. Als Leonhard außer Sicht war, zog er mich aus dem Hosenbund hervor.
»Na, gelber Nussknacker, hab ich dich aus den schmierigen Händen dieses Unholds befreit, was?«
Herzlichen Dank , wollte ich sagen, das wäre gar nicht notwendig gewesen. Aber noch ehe ich ein Wort herausbrachte, zischte Leo: »Vorsicht! Abtauchen!«
Wieder steckte er mich in seinen Hosenbund.
»Das war Emilie«, sagte er dann leise, beinahe flüsternd, als er mich kurze Zeit später wieder hervorzog. Ich sah Emilie nur noch von hinten. Sie war ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen.
»Emilie wohnt tagsüber auch hier im Café und abends im Hotel, wie ich, leider.«
Wie kann man bloß in einem Café und einem Hotel wohnen? , dachte ich. Hat der Kleine kein richtiges Zuhause?
»Emilie geht mir ganz schön auf die Nerven.« Leo redeteweiter drauflos, wobei er immer wieder nervös um sich blickte. »Ihre Mutter auch. Aber meine Mama findet die beiden nett, und sie hängen ständig zusammen. Wenn sie dann zu dritt was unternehmen, muss ich auch immer mit. Oh, das nervt! Kannst du dir das vorstellen?«
Klar kann ich mir das vorstellen , wollte ich sagen, aber …
»Vorsicht! Abtauchen!«
Wieder wanderte ich blitzschnell in den Hosenbund. Emilie kam erneut mit fliegenden Zöpfen angerannt und verschwand genauso schnell wieder.
Als sie schließlich das dritte Mal aufgeregt unseren Weg kreuzte, fragte Leo sie ziemlich gelangweilt: »Was ist los?«
Emilie blieb kurz stehen, ging dann langsam weiter und lockte Leo unauffällig mit dem Finger. Was nur bedeuten konnte, dass er ihr folgen sollte.
»Was soll das nun schon wieder?«, raunzte er und trottete Emilie in einem Abstand von ein paar Schritten hinterher.
Leo lief nicht gerne Mädchen hinterher, das merkte ich sofort. Schon gar nicht Emilie, und erst recht nicht mit mir im Hosenbund. Er wankte, als hätte er die Hose voll.
Als Emilie plötzlich hinter einem Kleiderständer verschwand, an dem Mäntel und Hüte hingen, und Leo ihr nach kurzem Zögern folgte, war er froh, nicht weitergehen zu müssen. Andererseits kam ihm Emilies Verhalten reichlich sonderbar vor. Die beiden standen abgeschirmt hinter den Mänteln in einer düsteren Ecke des Cafés, dicht beieinander, bis Emilie schließlich flüsternd und den Tränen nahe sagte: »Meine Spardose ist weg!«
Na und, was kann ich dafür? , schien Leo zu denken und hob die Schultern.
»Du meinst doch nicht etwa dieses hässliche, rosafarbene Porzellan-Sparschwein?«, fragte er.
Emilie nickte.
»Und das ist weg?«
Emilie nickte erneut.
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Gestohlen!«
»Was?«
»Pssst! Nicht so laut.«
Emilie hielt ihre Hand vor Leos Mund. Der zog sie weg und sprach leiser weiter.
»Warum trägst du auch deine blöde Sparbüchse spazieren?«
»Wenn jemand blöd ist, dann höchstens du«, entgegnete Emilie eingeschnappt. »Er hat sie mir im Hotel stibitzt!«
»Wer?«
»Der Dieb!«
»WAS?«
»Pscht!«
Noch ehe Emilie wieder die Hand vor Leos Mund schieben konnte, sprach Leo viel leiser weiter.
»Du weißt, wer die Sparbüchse geklaut hat?«
»Ja, nein, also, nicht genau, aber fast ganz sicher, doch, ja, weiß ich.«
Na, was jetzt , dachte ich, während Leo sagte: »Na, dann hol sie dir doch einfach wieder zurück!«
»Witzbold! Der wird natürlich einen Teufel tun, das zuzugeben.«
Da hatte sie natürlich auch wieder recht.
»Er wird es sogar abstreiten«, sagte Emilie. »Und wem würdest du glauben? Der kleinen nervigen Emilie oder einemMann mit Backenbart und einem Monokel vor dem Auge? Na?«
Na ja, ich würde der kleinen Emilie glauben. Leo sah hingegen so aus, als ob er Emilie ganz gut verstünde und sagte etwas kleinlaut: »Ich fürchte, du hast recht.«
»Na, siehst du!«
»Und was willst du jetzt machen?«
»Zurückholen! Auf schnellstem Wege wieder zurückklauen von diesem
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