Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Tür ging auf. Herr Kahlenberg stand in dem neuen Anzug von Wertheim vor Emilie.
»Sag mal, ich kenn dich doch …« Er taxierte Emilie.
»Mich?« Sie hielt seinem Blick stand. »Das kann nicht sein. Ich bin neu hier.«
Kahlenberg gab den Weg frei, sodass Emilie mit ihrem Wägelchen ins Zimmer fahren konnte. Während sie das Bett abzog, verdrückte Kahlenberg sich ins Bad.
»Los, raus mit dir«, flüsterte Emilie.
Leo sprang aus dem Behälter unter der schmutzigen Wäsche hervor. »Wohin?«
Emilie zeigte unter das Bett. Leo schüttelte den Kopf.
»Mach schon!«
Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich unter das Bett zu quetschen.
»Mit wem redest du denn da?«, war jetzt Kahlenbergs Stimme zu hören.
»Mit Ihnen ganz bestimmt nicht!«, rief Emilie zurück.
»unverschämtheit! Raus mit dir!« Kahlenberg schob Emilie mitsamt dem Rollwagen aus dem Zimmer. »Blöde Göre«, murmelte er, als Emilie draußen war. »Irgendetwas führt die doch im Schilde.«
Kahlenberg setzte sich aufs Bett und schien zu überlegen.
Leo hielt unter dem Bett den Atem an, und ich wünschte mich ganz weit weg.
Lange Zeit passierte nichts.
Vielleicht ist Kahlenberg eingeschlafen , dachte ich. Leo schien dasselbe zu denken. Als er sich gerade eben wieder unter dem Bett hervorrollen wollte, klingelte plötzlich das Telefon auf dem Nachttisch.
Kahlenberg schreckte hoch und zeigte sich anschließend wieder von seiner schleimigsten Seite. Seine Stimme rutschte eine Oktave nach oben und hörte sich an, als wäre sein Mund ein Honigfass. »Aber selbstverständlich, Gnädigste, ich freue mich über nichts mehr, als ein paar Stunden mit Ihnen zu verbringen. Wir sehen uns im Varieté. Bis gleich. Ich eile, ich fliege, meine reizende Magda!«
Magda? , dachte ich. Heißt nicht auch Emilies Mutter so?
Leo sah mich an, als hätte er einen ähnlichen Verdacht.
Kahlenberg sprang auf. Er ging ins Bad, dann zum Schrank, holte seinen Koffer heraus, warf seinen Mantel über und verschwand. Wir hörten nur noch, wie sich von außen der Schlüssel im Schloss drehte.
Unschlüssig fragte Leo: »Und was jetzt?«
Ich hatte keine Ahnung. Wir saßen fest.
Plötzlich klopfte es an die Tür. »Parole Emilie«, war leise zu hören. »Ist mein Sparschwein dadrin?«
» Ich bin hier drin«, sagte Leo wenig erfreut. »Das ist viel schlimmer!«
»Mach dir nicht ins Hemd, du kommst da schon raus.«
»Und wie?«
»Entweder du kletterst aus dem Fenster, oder wir knacken die Tür.«
Beides schien mir reichlich gewagt. Wir befanden uns im dritten Stock. Aus dem Fenster zu klettern war lebensgefährlich. Die Tür zu knacken war ebenfalls kein Kinderspiel.
»Anders geht es nicht?«, fragte Leo ängstlich.
Emilie schwieg.
»Emilie?«
»Halt die Klappe, ich denk nach«, kam von der anderen Seite der Tür. Und dann: »Warte!«
Leo und ich warteten. Es dauerte ungefähr fünf Minuten, bis Emilie wieder da war. Mit dem Schlüssel. Sie sperrte die Tür auf. Leo war sichtlich überrascht.
»Wo hast du denn den Schlüssel her?«
»Vom Portier.«
»Aber wie …«
»Nicht so spannend«, sagte Emilie und öffnete den Schrank. »Viel spannender ist, wo sich der Tresorschlüssel befindet.«
Im Schrank war tatsächlich ein Tresor.
»Irgendwo hat er ihn bestimmt versteckt …« Emilie blickte sich im Zimmer um. »Wo könnte der blöde Schlüssel versteckt sein?«
»Keine Ahnung.«
»Denk nach. Wo würdest du ihn verstecken?«
»Im Nachtkästchen.«
Emilie öffnete das Nachtkästchen. Natürlich war kein Schlüssel drin.
»unterm Schrank?« Leo bückte sich und sah unter den Schrank. Nichts.
Emilie verharrte plötzlich. »Siehst du den Stuhl?«, fragte sie.
»Klar, ich bin ja nicht blind«, sagte Leo.
»Fällt dir was auf ?«
Leo betrachtete den Stuhl. »Nö.«
»Der Schuhabdruck«, sagte Emilie. »Auf dem Stuhlpolster.«
Leo sah jetzt genauer hin. »Na und?«
»Na und! Sag mal, du kapierst ja überhaupt nichts! Warum wohl steigt Kahlenberg auf den Stuhl?«
»Keine Ahnung«, sagte Leo kleinlaut.
»Um etwas zu verstecken.« Emilie schaute nach oben und zeigte auf die Lampe, die von der Decke hing. »Da könnte der Schlüssel sein.« Sie schob den Stuhl unter die Lampe und stellte sich drauf. »Mist, ich bin zu klein.«
Leo grinste schadenfroh.
Emilie stieg wieder herunter. »Setz dich aufs Bett«, befahl sie.
Leo gehorchte. Emilie stieg ebenfalls aufs Bett und kletterte ihm dann auf die Schultern. »Und jetzt steh auf. Das schaffst du doch,
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