Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
Emilie im Schlitz des Vorhangs entdeckte. Leo winkte. Emilie nickte heftig.
Wieder las Magda die Zeilen. Dann sah sie Herrn Kahlenberg erstaunt an, stand überraschend auf und packte ihn ebensoüberraschend am Kragen. »Rück sofort das Sparschwein meiner Tochter raus!«, rief sie so laut, dass alle es hören konnten.
Herr Kahlenberg war zuerst so überrascht, dass es ihm die Sprache verschlug.
»Wird’s bald?« Magda zog ihn noch weiter über den Tisch.
Die Ausdruckstänzerin auf der Bühne tanzte unbeeindruckt weiter.
Irgendwie konnte Herr Kahlenberg sich aus Magdas Fängen befreien. Er stolperte durch den Zuschauerraum, warf dabei ein paar Stühle um und flüchtete zum Ausgang. Von da an ward er nicht mehr gesehen.
»Und jetzt ab mit euch ins Bett«, sagte Magda zu Emilie und Leo, als sie neben dem Schlitz im Vorhang auftauchte, während Leo mich unauffällig in seinem Hosenbund verschwinden ließ. »Ihr findet nach Hause, oder?«
Beide nickten.
»Bis morgen!«, sagte Magda. »Schlaft schön.«
Sie ging zurück zum Tisch und bestellte sich ein weiteres Glas Wermut.
* * *
Woran es lag, dass es im Romanischen Café, im Hotel Kaiser und auch sonst in der Stadt ziemlich locker zuging, war mir anfangs ein Rätsel. Vermutlich lag es daran, dass wieder Frieden war. Es ging so friedlich zu, dass die Politik, um die sich noch Jahre vorher alles gedreht hatte, kaum mehr eine Rolle im Leben spielte. Zumindest nicht mehr die bedeutende Rolle wie noch zuvor. Die Währung war wieder stabil und sicher.
Die Rolle der Frauen veränderte sich. Sie wurden selbstbewusster, kleideten sich freizügiger und modischer als ihre Mütter.Viele trugen Federboas und Kurzhaarfrisuren und waren auffällig geschminkt. Manche hatten wie Männer jetzt Hosen an und rauchten Zigarettenspitze. Sie kehrten Heim und Herd den Rücken, studierten oder verdienten ihr eigenes Geld zum Leben. Sie arbeiteten in Berufen, die noch vor ein paar Jahren für eine Frau undenkbar gewesen wären. Sie wurden Briefträgerinnen, Schalterbeamtinnen oder Schaffnerinnen.
Natürlich hatte das auch mit dem Männermangel zu dieser Zeit zu tun. Viele Männer waren im Krieg gefallen oder kehrten als Invalide zurück. Der Krieg hatte über sieben Millionen Tote gefordert, davon allein zwei Millionen in Deutschland.
Alle waren froh, dass diese düsteren Jahre zu Ende waren und eine neue Zeit anbrach. Auch für mich. Es schien, als hätte jemand ein Fenster geöffnet, sodass ein frischer Wind durch die alten Gemäuer wehte. Die Beziehungen zwischen den Ländern wurden besser. Das Romanische Café war voll von Ausländern, die nach Berlin gezogen waren und hier wohnten und lebten. Man hasste sich nicht mehr wie vielleicht früher noch. Im Gegenteil, man näherte sich an, wurde sogar zu Freunden.
* * *
»Na los, schlag zu! Jaaa! Hast du das gesehen? Was für ein Aufwärtshaken!«
»Er hat doch gar nicht richtig getroffen.«
»Klar hat er.«
»Ma-ax! Ma-ax!«
Wir waren im Berliner Sportpalast. Mit uns waren 10 000 Leute in der Halle, und alle feuerten Max Schmeling an, Deutschlands besten Boxer. Nur Leo nicht. Emilie dagegenumso mehr. Sie schrie lauter als ihre Mutter und Else zusammen. Ich wusste warum, denn Leo hatte es mir erzählt: Emilie wollte auch gerne boxen. Aber ihre Mutter wollte lieber, dass sie turnte.
Dafür war Else der festen Überzeugung, dass Leonhard ein kleiner Max Schmeling werden sollte. Sie verdonnerte ihn einmal die Woche zum Training im Boxklub am Kurfürstendamm, wo er sich dann von älteren Jugendlichen vermöbeln lassen musste.
Leo hasste das Boxen. Viel lieber wäre er Turner geworden. Er träumte davon, sich kraftvoll an Kletterstangen hochzustemmen, mit eleganten Schwüngen am Barren zu pendeln und mit einem gewandten Sprung über das Pferd zu fliegen anstatt sich in einem Boxring, zwischen Seilen, verdreschen zu lassen. Ich konnte Leo irgendwie verstehen. Die 10 000 Zuschauer im Sportpalast allerdings nicht.
»Komm!«, sagte Emilie, nahm Leo an der Hand und ging mit ihm weiter nach vorne, während die Zuschauer vor Aufregung von den Sitzen aufgesprungen waren. Leo war so überrascht, dass er sich widerstandslos mitziehen ließ. Ich in seiner Hand ebenfalls.
Wir standen jetzt ganz vorne am Ring und hörten das Stöhnen der Boxer nach jedem Schlag. Ich sah, wie ihre Augen immer mehr zuschwollen, sodass ihre Schläge jetzt öfters ins Leere gingen.
»Hau ihn um, Max!«, rief Emilie so laut, dass Leo sich die Ohren zuhielt.
Max
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