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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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stiegen vorsichtig die Treppe hinunter.
    »Pass doch auf!«, schimpfte jemand.
    »Aua!« Das Streichholz war aus.
    »Verflixt!«, fluchte Rosas Vater. Er war über die Alte mit dem schlohweißen Haar und der Daunendecke gestolpert und hingefallen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Geht schon, danke.«
    »Mami, Mami, ich hab meine Puppe vergessen«, rief ein kleines Kind und fing an zu weinen.
    »Die holen wir nachher«, sagte die Mami. »Nicht weinen, mein Schatz.«
    Keine fünf Minuten später saß die ganze Hausgemeinschaft in dem nur spärlich beleuchteten, kalten Keller. Ein paar Kerzen wurden angezündet. Alle wickelten sich in die mitgebrachten Decken. Einige Männer rauchten. Eine alte Frau betete stumm. Ihre Lippen bewegten sich wie eine Nagelschere auf und zu.
    »Jetzt haben sie uns am Schlafittchen«, sagte ein alter Mann mit nuschelnder Stimme, da er offensichtlich sein Gebiss in der Wohnung vergessen hatte.
    »Das war abzusehen«, sagte die Frau mit dem kleinen Kind. Es weinte noch immer und rief nach der Puppe.
    »Der Krieg ist verloren«, nuschelte der Mann weiter.
    »Nicht nur der Krieg! Alles!«, sagte die Frau bitter und versuchte, ihr Kind zu beruhigen.
    »Wegen dem verdammten Hitler!«, zischte die Alte mit den schlohweißen Haaren.
    »Was haben Sie da gesagt?«
    Es war der Einbeinige aus dem ersten Stock, der tagsüber immer im Hausflur stand, aufgestützt auf seine Krücke, und versuchte, Rosa über die anderen Hausbewohner auszufragen.
    »Nichts!«, murmelte die Frau jetzt noch leiser. »Ist doch wahr!«
    »Nuni, Nuni!«, quäkte das Kind immer lauter.
    »So heißt ihre Puppe!«, sagte die Mutter, als sie die fragenden Gesichter der anderen sah, und strich dem Kind liebevoll über den roten Kopf.
    »Hier, nimm«, sagte Rosa und hielt mich dem quengelnden Kind hin. Es hörte sofort zu weinen auf, schaute mich mit großen verschlafenen Augen an und brüllte dann, ebenso schlagartig, noch lauter als zuvor.
    »Jetzt reicht’s aber!«, schimpfte der Einbeinige genervt, während es draußen wieder so ohrenbetäubend krachte, dass das ganze Haus mitsamt dem Keller erzitterte.
    »Ist schon gut«, sagte die Mutter. Sie streichelte wieder den roten Kopf des Kindes und zischte verzweifelt: »Scheißkrieg!«
    Worauf hin das Kind wider Erwarten zu brüllen aufhörte, um dann noch lauter wieder loszulegen.
    »Scheißkrieg!«, zischte Rosa, worauf das Kind erneut verstummte.
    »Was hast du gesagt?«, kam wieder vom Einbeinigen. Was aber kaum zu verstehen war, weil das Kind, kaum dass »Scheißkrieg« verklungen war, wieder die Bude zusammenschrie.
    »Scheißkrieg!« Sofort hörte das Kind wieder auf.
    Immer, wenn jemand »Scheißkrieg!« sagte, unterbrach das Kind für kurze Zeit sein Gebrüll.
    Zuerst übernahm Rosa, dann Rosas Vater, dann die Altemit den schlohweißen Haaren den »Scheißkrieg!«, bis schließlich jeder drankam, sogar der Einbeinige, ob er wollte oder nicht. Er murmelte wenig überzeugend und kaum verständlich »Scheißkrieg«, worauf das Kind sogar zu kichern anfing.
    Während draußen noch immer Sirenen und Bombeneinschläge zu hören waren, schlief der kleine Schreihals erschöpft in den Armen seiner Mutter ein.
    Aber nicht nur das Kind wurde Opfer seiner Müdigkeit. Auch den anderen im Keller fielen nacheinander die Augen zu. Der Einbeinige brummte im Schlaf irgendetwas von »Endsieg« und »Treue bis in den Tod«.
    Woraufhin die Alte mit den schlohweißen Haaren »Halt’s Maul!« fauchte. Der Einbeinige wachte kurzzeitig auf und fragte: »Wie spät ist es?«
    »Zu spät!«, sagte die Alte.
    Der Einbeinige schüttelte den Kopf und schlief weiter.
    Es war das erste Mal, dass Rosa hier unten saß. Von da an war sie fast jede Nacht im Keller. Sie wartete ab, was passierte und hoffte, dass es nicht allzu schlimm werden würde.
    Irgendwann, als die Kerzen fast abgebrannt waren, schlief Rosa an der Schulter ihres Vaters ein. Kurze Zeit später auch ich.
    * * *
    Am nächsten Morgen gab es ein böses Erwachen.
    Das Haus stand zwar noch, doch andere Gebäude waren nicht mehr wie zuvor, denn ihnen war weniger Glück beschieden gewesen. Von manchen war nichts mehr übrig. Bei anderen fehlten ein paar Stockwerke. Wieder andere hatten sich in einen riesigen Schutthaufen verwandelt, der still vor sich hin qualmte. Leute, die gestern noch darin gewohnt hatten, standenjetzt auf den Straßen, weinend und obdachlos. All ihr Hab und Gut war binnen einer Nacht im Flammen aufgegangen und im Wahnsinn dieses

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