Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
von wo ich den Patienten direkt in die ängstlichen Gesichter blicken konnte. Meine Aufgabe war, wie Rosa sagte, »ihnen Mut zu machen«.
Fast alle Menschen schienen Angst vor dem Zahnarzt zu haben. Zumindest sahen fast alle so aus, die die Tür zur Praxis von Dr. Rudolf aufstießen. Einige kamen erst gar nicht alleine. Sie brachten Frauen, Kinder, Männer, Großväter und Mütter mit. Und Gepäck. Manche hatten Pakete und Schachteln, Gläser und Tüten dabei, die sie aber beim Verlassen der Praxis regelmäßig vergaßen. Manche schienen auch dann Angst zu haben, wenn Dr. Rudolf gar nicht bohrte. Aus dem Behandlungszimmer jedenfalls drangen keine Bohrgeräusche, nur Geflüster. Mir schien, als ob Dr. Rudolf mit den Patienten meistens nur redete. Wie man allein durch Reden Zähne behandeln konnte, war mir schleierhaft.
Wenn die Leute die Praxis verließen, sahen sie viel weniger ängstlich aus. Es dauerte nicht lange, da wurde mir klar, dass Dr. Rudolf nicht nur Zähne reparierte.
»Er hilft, wo er kann«, sagte Rosa zu mir. »Aber das verstehst du nicht.«
Oh doch, und ob ich verstand. Die Zahnarztpraxis war nicht nur eine Zahnarztpraxis. Dr. Rudolf versteckte auch Wertgegenstände, Schmuck, Bilder und Porzellan, die die Leute ihm anvertrauten, damit die Nazis sie ihnen nicht wegnehmen konnten.
Meistens stand ich noch immer auf dem Tresen, wenn alle Patienten längst weg waren. Der Zahnarzt war nach wie vor in seiner Praxis, und Rosa half ihm bis spät in den Abend. Wobei, war mir lange Zeit schleierhaft.
Bis ich eines Tages einen Stapel Papiere sah, den Rosa aus dem Behandlungszimmer brachte und auf den Tresen legte, um ihn in ihrer Tasche zu verstauen. Es waren Flugblätter, auf denen die Überschrift stand: »Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk.« Dann kam eine Menge klein geschriebener Text. Dazwischen wieder groß: »Das Naziparadies – Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo. Wie lange noch?« Das Blatt schloss mit dem Aufruf: »Nieder mit der Naziherrschaft!«
Also hat nicht nur Adelheid sich für den Widerstand gegen die Nationalsozialisten entschieden , dachte ich, auch Rosa .
»Guck nicht so kritisch!«, sagte sie. »Denk an Adelheid und Salomon!« und: »Was sein muss, muss sein!«
Das war aber noch lange nicht genug. Außerdem guckte ich gar nicht kritisch, nur besorgt. Ich hatte allen Grund dazu.
* * *
»Rosa, wach auf! Schnell!«
Es war Rosas Vater, der immer wieder laut ihren Namen rief und aufgeregt in ihr Zimmer stürmte.
»Was ist denn?«
Vor den Fenstern war es dunkel. Es war mitten in der Nacht. Das Licht im Flur flackerte. Lautes Sirenengeheul war zu hören.
»Bombenalarm!«
Rosa, vom Schlaf noch ganz benommen, rieb sich die Augen.
»Los, komm, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Der Vater packte Rosa, hob sie aus dem Bett und nahm sie auf die Arme. Noch ehe Rosa sich’s versah, standen sie schon im Flur.
»Halt! Der Nussknacker!«
Der Vater rannte mit der Tochter auf dem Arm wieder zurück. Rosa packte mich. Schon waren wir im Treppenhaus.
»Lass mich runter, Papa«, sagte Rosa. »Ich kann selber gehen.«
Ich merkte, dass ihr Vater erleichtert war. Rosa wurde ihm auf die Dauer einfach zu schwer.
Die Lampe im Hausflur flackerte. Auch die Nachbarn kamen jetzt aufgeregt aus ihren Wohnungen, Kleinkinder auf den Armen, größere an der Hand. Ich sah Großmütter mit Stöcken. Manche hatten nur dicke Wolljacken über die Schlafanzüge und Nachthemden geworfen. Andere trugen warme Kleidung in der Hand. Manche waren barfuß. Andere hatten einen Korb voller Lebensmittel, Kissen und Decken dabei.
»Für alle Fälle, man weiß nie«, sagte eine alte Frau mit schlohweißem, strubbeligem Haar, die eine Daunendecke mit sich herumschleppte.
»Schnell in den Keller!«, rief jemand.
Was aber kaum zu verstehen war, weil die Worte plötzlich unter tosendem Krach begraben wurden. Das ganze Haus fing an zu zittern, als hätte es Schüttelfrost. Die Hausflurlampe ging aus.
»Aua!«, schrie jemand.
»Was war das?«, fragte eine weinerliche Stimme.
»’Ne Bombe war das, Fliegerangriff«, erklang es besorgt aus der Dunkelheit. »Es muss eingeschlagen haben, ganz in der Nähe.«
»Schneller! Schneller da vorne!«, peitschten Worte von oben die Treppe hinunter.
Jemand zündete ein Streichholz an. Dunkle Schemen waren jetzt zu sehen, die sich am Treppengeländer entlangtastetenund verzerrte Schatten an die Wände warfen. Auch Rosa, die mich fest in der Hand hielt, und ihr Vater
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