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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Sogar ich drohte mich angesichts der Hitze zu verflüssigen.
    Das Kinderheim Sankt Marien lag genau zwischen einer Bergarbeitersiedlung mit Namen »Schöne Scholle« und dem Dorf Berkum. Warum die Kinder – es waren nur Buben – in Sankt Marien lebten, wurde mir schnell klar. Sie hatten entweder keine Eltern, weil die im Krieg ums Leben gekommen waren, oder der Vater war in Gefangenschaft und die Mutter mit der Erziehung der Kinder überfordert. Also kümmerten sich die Ordensschwestern mit harter Hand um die Bengel und versuchten ihnen die Eltern zu ersetzen, so gut es ging. Was ihnen meistens nicht gelang.
    Die Jungs waren viel auf sich allein gestellt. Sie hielten sich meistens draußen in der Natur auf und mussten sich mit sich selbst oder untereinander beschäftigen. Was den meisten auch am liebsten war.
    Fred und Karl hingen ständig zusammen. Alles was sie machten, taten sie gemeinsam. Zum Beispiel Kaninchen züchten im fast eingefallenen Schuppen vom alten Spint.
    Der alte Spint wohnte zwischen der Bergarbeitersiedlung und dem Dorf auf der anderen Seite des Kinderheims hinter einem Tannenwäldchen und fünf großen Pappeln. Die Pappelnragten so hoch in den Himmel, dass die Flugzeuge, die ab und an darüber hinwegflogen, höllisch aufpassen mussten, von den Zweigen nicht unliebsam gestreichelt zu werden. Nicht weit vom kleinen Häuschen des Herrn Spint entfernt führten Eisenbahnschienen von Berkum kommend vorbei nach Oberhausen, und von da in die ganze Welt. Hinter dem Bahnhof war die Barackensiedlung. Dort standen Hütten, aus groben Holzbrettern zusammengenagelt, in denen ebenfalls Leute lebten, mit denen der Kontakt aber strengstens verboten war – so wollten es die Ordensschwestern.
    Der alte Spint erlaubte den beiden Jungs – natürlich ohne Wissen der Oberin –, in seiner Scheune vier weiße Hasen in einem von ihnen selbst gezimmerten Stall zu halten. Sie mussten einzig das Versprechen ablegen, dass sie jeden Tag die Hasen fütterten und einmal die Woche den Stall sauber machten.
    Fred und Karl hoben Zeige- und Mittelfinger feierlich zum Schwur, sodass der alte Spint »Na dann, meinetwegen!« sagte. Ansonsten sagte er kaum etwas. Er redete nicht gern, und wenn er tatsächlich mal sprach, dann höchstens »Was soll’s!« oder »Meinetwegen!« oder »Wenn’s denn sein muss!«
    Anschließend holte er seine Schnupftabakdose aus der Tasche seiner weiten Hose, häufte sich zweimal hintereinander einen großen braunen Haufen auf den Handrücken und zog das Zeug in die Nasenlöcher. Meistens musste er danach niesen, sodass die braunen Haufen, wenn er nicht rechtzeitig sein kariertes Taschentuch aus der Hose ziehen konnte, in seiner kleinen Küche verteilt wurden. Hin und wieder kam es vor, dass die Oberin bei Karl und Fred vor dem Zubettgehen Schnupftabakbröckchen in den Haaren fand, wenn sie bei Spints Niesattacken nicht augenblicklich in Deckung gegangenwaren. Die Oberin schaute dann genauso verdutzt wie die beiden Jungs und sagte entsetzt: »Das werden doch wohl nicht die Läuse sein!«
    Natürlich hätten Fred und Karl sagen können: »Nein, das ist nur der Schnupftabak vom alten Spint.« Da es aber ausdrücklich und unter Androhung drastischer Strafen verboten war, sich in der Barackensiedlung aufzuhalten – erst recht beim alten Spint, »diesem spinnenden Kommunisten«, wie es abschätzig hieß –, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu schweigen und mit hinzunehmen, dass die Oberin ihnen vorsorglich die Haare scheren ließ.
    Am nächsten Tag waren sie das Gespött des ganzen Kinderheims. Das schweißte die beiden noch mehr zusammen. Auch der alte Spint wurde den Jungs dadurch noch vertrauter, sodass sie jetzt oft zweimal am Tag, bei Regen oder Sonnenschein, in Spints Scheune saßen oder mit ihm hinter dem Haus in der Sonne hockten. Spint zog an seiner Pfeife und qualmte vor sich hin, während die Jungs den Tauben zuschauten, die in einem Verschlag hinter Maschendraht aufeinander einhackten. Spint hatte zwölf Brieftauben, elf graue und eine weiße. Was er mit den Tauben vorhatte, wussten Fred und Karl nicht. Spint war nicht im Taubenzüchterverein. Seine Tauben beteiligten sich auch nicht an Flugwettbewerben, bei denen Trophäen und Pokale gewonnen werden konnten. Wenn Fred und Karl ihn fragten, warum er die Tauben dann überhaupt habe, sagte er nur: »Für alle Fälle!«
    Was für Fälle das waren, sagte er nicht.
    Am Waschtag, jede Woche montags, waren Fred und Karl nur kurz bei

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