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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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griff sie in den Ranzen, ohne ihn vom Rücken zu nehmen oder gar hineinzuschauen, und zog mich kopfüber heraus.
    »Hier, für dich!« Sie steckte mich dem verdutzten Mädchen zu.
    Lotte nahm die Fahrkarte und warf der Frau noch ein »Danke!« und mir ein »Tut mir leid« zu. Dann rannte sie davon und zog Lucky hinter sich her.
    Ich schaute auf die große Bahnhofsuhr.
    Noch eine Minute , dachte ich. Das könnte sie schaffen.

1949 – 1954, Berkum, Ruhrgebiet, Westdeutschland
    »Jetzt haben wir hier noch ein paar Trostpreise.«
    Lachen. Pfiffe. Unmutsäußerungen.
    »Ruhe! Herrschaft! Kinder!«, rief die Mutter Oberin so laut, dass ihre Haube auf dem Kopf zitterte. »Losnummer zwölf! Das ist eine Fahrradklingel!«
    »Aber wir haben ja nicht einmal Fahrräder!«, riefen ein paar Jungs.
    Die Oberin schaute verwirrt.
    »Ruhe, hab ich gesagt!«
    Gesagt nicht, aber gebrüllt , dachte ich.
    »Wer hat Losnummer zwölf ?«
    Niemand meldete sich.
    »Dann eben nicht.«
    Die Oberin sah ärgerlich aus.
    »Losnummer einundzwanzig! Ein Hula-Hoop-Reifen!«
    »Das ist ja was für Mädchen!«
    »Ieh!« Lachen, Pfiffe. Wieder meldete sich niemand.
    Die Oberin wurde wütend. Ihr Gesicht war jetzt so rot wie der Hula-Hoop-Reifen, den sie in der Hand hielt.
    »KINDER!«, brüllte sie, dass die Haube wieder wackelte. »Entweder wir machen das jetzt ordentlich hier, oder es gibt Arrest!«
    Die Kinder verstummten. Kein Lachen, keine Pfiffe mehr.
    »Losnummer einundfünfzig. Das ist …«, die Oberin zögerte, starrte mich an und sagte zweifelnd, als wäre sie sich nicht ganz sicher: »Ein Nussknacker!«
    »Karl, du hast doch einundfünfzig!«, rief ein Junge.
    Ein anderer wurde rot und machte: »Pssst!«
    »Karl? Kommst du nach vorne?«
    Karl stand auf und ging mit gesenktem Kopf durch die Reihen hindurch. Manche kicherten. Die Oberin reichte mich ihm.
    »Dein Trostpreis.«
    »Aber ich hab doch gar nicht Losnummer …«
    »KARL!«
    Die Oberin hob drohend die Hand. Karl verstummte. Er schaute betreten zu Boden und hielt mich wie einen Fremdkörper vor der Brust. So kam ich mir auch vor. Ich fand es beschämend, ein Trostpreis zu sein. Noch beschämender, wenn man weiß, dass eine lächerliche Luftmatratze der Hauptgewinn war.
    »Na los, zurück an deinen Platz!«, raunzte die Oberin.
    Karl drehte sich um und ging durch die feixenden Reihen hindurch zurück an seinen Platz. Dort angekommen, gab er mich sofort einem anderen Jungen, der neben ihm saß.
    »He, den hast doch du gewonnen!« Er wollte mich Karl zurückgeben.
    »Ja, aber es ist dein Los.«
    »Ruhe dahinten!«, rief die Oberin wieder mit rotem Kopf.
    * * *
    Ich wurde also in einer Tombola als Trostpreis verscherbelt. Das nagte natürlich erheblich an meinem Selbstwertgefühl. Bloß gut, dass ich nicht nachtragend bin. Zumal die beiden Jungs – Karl, der mich in Empfang nahm und Fred, dem das Los eigentlich gehörte  – nichts dafür konnten. Obgleich ich natürlich sofort merkte, dass auch sie viel lieber eine Luftmatratze gewonnen hätten, als einen defekten Nussknacker, mit dem sie nicht so recht was anzufangen wussten. Ihre anfängliche Enttäuschung war dennoch schnell verschwunden. Sie akzeptierten mich und beschlossen, dass ich von nun an beiden gehören sollte.
    Ungewöhnlich , dachte ich. Ich war in meinem Leben schon in den unterschiedlichsten Händen und in der Obhut verschiedenster Menschen gewesen. Eine Zeit lang hatte ich auch niemandem gehört. Aber gleich zweien?
    Genauso ungewöhnlich wie die beiden Jungs war auch mein neues Zuhause. Fred und Karl lebten nämlich nicht bei Vater und Mutter, sondern bei der dicken Oberin mit dem roten Gesicht und der zitternden Haube. Viele weitere Ordensschwestern gehörten zu diesem Zuhause. Und nicht zu vergessen, ganz viele andere Kinder. Denn es war ein Kinderheim, in das es mich verschlagen hatte, genau am Tag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949. Deswegen auch die Feier, die Tombola und die Trostpreise. Ein Monat später wurde auch im anderen Teil Deutschlands, der nicht zur BRD gehörte, ein Staat gegründet. Der nanntesich DDR, Deutsche Demokratische Republik. Sicher wurde auch da gefeiert und in einer Tombola wenige Haupt- und viele Trostpreise verhökert.
    * * *
    Der Sommer war fast vorbei. Trotzdem war es noch brütend heiß, sodass nicht nur den Kindern der Schweiß in Strömen herunterlief, auch die Schwestern trugen feuchte Flecken auf der grauen Ordenstracht unter ihren Achseln spazieren.

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