Der Oligarch
nicht daran, ihn zu vergessen, nur weil ich Ihnen heute behilflich bin.«
»Auch ich habe einen Eid abgelegt. Und heute Nacht sticht meiner Ihren aus.«
Gabriel wandte sich ab und ging nach oben in sein Zimmer. Er streckte sich auf dem Bett aus, aber sobald er die Augen schloss, sah er nur Blut. Weil er das Bild nicht loswerden konnte, streckte er die Hand aus und schaltete das Radio ein. Eine Nachrichtensprecherin mit sinnlicher Stimme wünschte ihm einen guten Abend und begann die Nachrichten zu verlesen. Die Bundeskanzlerin plädierte für eine neue Ära des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland. Ihre diesbezüglichen Vorschläge wollte sie bei dem bevorstehenden G8-Sondergipfel in Moskau vorlegen.
Bei Tagesanbruch war Petrows Widerstandswille gebrochen. Auf seinem Weg zur Wahrheit folgte er keiner geraden Linie, aber das hatte Gabriel auch nicht erwartet. Schließlich war der Russe ein Profi. Er führte sie in Sackgassen der Illusion und auf Irrwege der Täuschung. Und obwohl er nur für Geld gearbeitet hatte, bemühte er sich auf bewundernswerte Weise, Russland und seinem persönlichen Schutzheiligen Iwan Charkow die Treue zu halten. Navot war geduldig, aber unnachgiebig gewesen. Er hatte Petrow keine weiteren Schmerzen zufügen, ihm nicht mal welche androhen müssen. Der Russe litt schon genug. Sie hatten ihn nur bei Bewusstsein halten müssen. Zwei Schusswunden und ein gebrochener Unterkiefer erledigten den Rest.
Erschöpft und zitternd wegen der einsetzenden Infektion kapitulierte Petrow endlich. Er sagte, in der Wladimirskaja Oblast nordöstlich von Moskau stehe eine Datscha. Sie liege isoliert und versteckt und werde streng bewacht. In ihrer Umgebung mündeten vier Bäche in ein riesiges Sumpfgebiet. Und es gebe dort weite Birkenwälder. Dies war der Ort, an dem Iwan Charkow seine blutige Arbeit tat. Dies war Charkows Gefängnis. Charkows Hölle auf Erden. Navot fand das Besitztum, indem er eine handelsübliche Software verwendete. Das Satellitenbild auf seinem Bildschirm entsprach exakt Petrows Beschreibung. Er schickte nach dem Arzt und ging nach oben, um Gabriel zu informieren.
Er lag im Dunkeln, hatte die Hände unter dem Nacken gefaltet und die Füße übereinandergelegt. Als er die Nachricht hörte, setzte er sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Dann benutzte er seinen PDA, um eine verschlüsselte Blitzmeldung an drei Orte auf drei Kontinenten abzusetzen: King Saul Boulevard, Thames House und Langley. Eine Stunde nach Sonnenaufgang fuhr er allein nach Hamburg. Um 14 Uhr ging er an Bord des British-Airways-Fluges 969 und um 15.15 Uhr saß er auf dem Rücksitz einer MI5-Limousine, die ihn in die Londoner Innenstadt brachte.
55 M AYFAIR , L ONDON
In den dunklen Tagen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde die US-Botschaft am Grosvenor Square in einen Hochsicherheits-Schandfleck verwandelt. Beinahe über Nacht sprossen Barrikaden und Splitterschutzwände aus dem Asphalt, und zur Erbitterung der Londoner wurde eine angrenzende belebte Straße ganz für den Verkehr gesperrt. Es gab jedoch auch Veränderungen, die von außen nicht sichtbar waren – zum Beispiel die Einrichtung eines CIA-Lageraums tief unter dem Platz selbst. Der mit dem Globalen Operationszentrum in Langley verbundene Raum diente als Kommandozentrale für Unternehmen in Europa und im Nahen Osten und war so geheim, dass nur eine Handvoll englischer Minister und Geheimdienstleute von seiner Existenz wussten. Bei einem Besuch im vergangenen Sommer hatte Graham Seymour deprimiert festgestellt, dass dieser Raum weit größer war als die Operationszentren von MI5 und MI6. Das war wieder einmal typisch für die Amerikaner. Angesichts der Bedrohung durch den islamischen Terrorismus hatten sie sich ein tiefes Loch gegraben, in dem sie lauter Hightech-Spielzeug arbeiten ließen. Und dann fragten sie sich, warum sie verloren.
Seymour traf kurz nach 20 Uhr ein und wurde ins »Goldfischglas« begleitet: einen abhörsicheren Konferenzraum mit Wänden aus schalldichtem Glas. Ari Schamron und Gabriel saßen an der Längsseite eines langen Tischs, Adrian Carter stand mit einem Laserpointer in der Hand an der Stirnseite. Die Projektionswand zeigte eine Aufnahme, die ein US-Spionagesatellit gemacht hatte, der das europäische Russland überwachte. Abgebildet war eine kleine Datscha, die exakt 205,31Kilometer nordöstlich des Dreifaltigkeitsturms des Kremls stand. Carters roter Punkt markierte
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