Der Oligarch
Danach die nebeneinander aufgereihten Zeitzonenuhren. Dann schloss er die Augen. Und sah alles genau vor sich.
Das Ganze erschien ihm als ein Zyklus von großen Gemälden, Öl auf Leinwand, von der Hand Tintorettos. Die dunklen Bilder, überzogen mit vergilbtem Firnis, hingen im Hauptschiff einer kleinen Kirche in Venedig. Gabriel ging jetzt in Gedanken langsam an ihnen vorüber – mit Chiara an seiner Seite, deren Brust gegen seinen Ellbogen drückte und deren langes Haar seine Wange streifte. Auch mit Carters Hilfe würde ihre und Grigorijs Befreiung aus der Datscha ein operativer und logistischer Albtraum werden. Iwan Charkow würde sich in seinem eigenen Revier bewegen und alle Vorteile auf seiner Seite haben. Es sei denn, Gabriel konnte irgendwie das Blatt wenden. Durch Täuschung …
Gabriel musste dafür sorgen, dass Charkows Wachsamkeit erlahmte. Er musste ihn zum Zeitpunkt der Gefangenenbefreiung ablenken. Und – noch dringender – er musste ihn dazu bewegen, Chiara und Grigorij vier weitere Tage leben zu lassen. Um das zu erreichen, brauchte er noch etwas von Adrian Carter. Nicht nur ein Ding, sondern zwei.
Er blinzelte, um aus Venedig in die Wirklichkeit zurückzukehren, und betrachtete erneut die Datscha unter den Bäumen. Ja, dachte er nochmals, von Adrian Carter brauchte er zwei Dinge, die Carter ihm jedoch nicht geben konnte. Nur eine Mutter konnte sie ihm überlassen. Und so betrat er mit Carters Erlaubnis ein leeres Büro in einer Ecke des Lagezentrums und schloss die Tür hinter sich. Er wählte die Nummer des streng bewachten Landsitzes in den Adirondack Mountains. Und er bat Elena Charkowa, ihm den einzigen Schatz zu leihen, den sie auf dieser Welt noch besaß.
56 P ARIS
Im Nachhinein, bei der unvermeidlichen Analyse und Aufarbeitung eines Unternehmens dieser Größenordnung, gab es eine lebhafte Debatte darüber, wer von den zahlreichen Mitwirkenden den größten Anteil an seinem Ergebnis gehabt habe. Ein Beteiligter allerdings wurde nicht nach seiner Meinung gefragt und hätte bestimmt auch keine geäußert, wenn er danach gefragt worden wäre. Er war ein Mann weniger Worte, der auf einem einsamen Posten stand. Er hieß Rami und hatte den Auftrag, ein Nationalheiligtum, den Memuneh, zu beschützen.
Rami war seit fast zwanzig Jahren nicht mehr von der Seite des Alten gewichen. Er war Schamrons »anderer« Sohn, der zu Hause blieb, während Gabriel und Uzi in aller Welt den Helden spielten. Er war derjenige, der dem Alten Zigaretten zusteckte und dafür sorgte, dass sein Zippo mit Feuerzeugbenzin aufgefüllt wurde. Er war derjenige, der nachts mit ihm auf der Terrasse in Tiberias saß, sich zum tausendsten Mal die Geschichten des Alten anhörte und so tat, als sei es das erste Mal. Und er war derjenige, der am folgenden Nachmittag um 16 Uhr mit genau zwanzig Schritten Abstand hinter dem Alten herging, als dieser den Pariser Tuileriengarten betrat.
Schamron traf Sergeij Korowin wie angekündigt in der Nähe des Jeu de Paume, kerzengerade auf einer Parkbank sitzend. Er trug einen dicken Wollschal unter seinem Mantel und rauchte eine Papyrossi, die keinen Zweifel an seiner Nationalität ließ. Als Schamron sich neben ihn setzte, hob Korowin schwerfällig den linken Arm und studierte seine Armbanduhr.
»Sie kommen zwei Minuten zu spät, Ari. Das sieht Ihnen nicht ähnlich.«
»Der Weg war weiter, als ich dachte.«
»Unsinn.« Korowin ließ den Arm sinken. »Sie sollten wissen, dass Geduld nicht Iwan Charkows Stärke ist. Deshalb wurde er nie zur Ersten Hauptverwaltung beordert. Für reine Spionage war er nach allgemeiner Ansicht zu impulsiv. Wir mussten ihn in die Fünfte stecken, wo sein Temperament besser verwertbar war.«
»Um Schädel einzuschlagen, meinen Sie?«
Korowin zuckte ausdruckslos mit den Schultern. »Irgendjemand musste es tun.«
»Er muss seinen Vater ganz schön enttäuscht haben.«
»Charkow? Er war ein Einzelkind. Er wurde schrecklich … verzogen.«
»Das merkt man.«
Schamron holte ein silbernes Etui aus der Manteltasche und zündete sich umständlich eine Zigarette an. Korowin sah sichtlich irritiert nochmals auf seine Uhr.
»Vielleicht hätte ich etwas deutlicher sein sollen. Das Ultimatum war keineswegs nur hypothetisch. Charkow erwartet eine Rückmeldung von mir. Falls diese ausbleibt, könnte ihre Agentin womöglich durch einen Genickschuss getötet aufgefunden werden.«
»Das wäre ziemlich töricht, Sergeij. Wenn Charkow meine Agentin ermordet,
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