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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Dort blieb er vor dem Haus Nummer 6 stehen und betrachtete die Reiseplakate im Schaufenster von Galaxy Travel. Eines zeigte ein russisches Paar, das an einer Schneebar in Courchevel mit Champagner anstieß, auf einem anderen sonnten sich russische Teenager an einem Strand an der Côte d’Azur. Welche Ironie darin lag, schien Irina Bulganowa, die Exfrau des Überläufers Grigorij Bulganow, die mit dem Telefonhörer am Ohr aufrecht am ihrem Schreibtisch saß, nicht zu bemerken. Gabriel hätte ihr gern vieles erzählt, aber das durfte er nicht. Noch nicht. Und so stand er allein in der Kälte und beobachtete sie durch die beschlagene Scheibe. Die Wirklichkeit ist nur ein Bewusstseinszustand, dachte er. Die Wirklichkeit kann sein, was immer wir wollen.

59
G ROSVENOR S QUARE , L ONDON
    Falls sich Gabriel in den stressreichen letzten Stunden vor dem Einsatz Bestnoten für Selbstbeherrschung verdiente, so ließ sich das von Ari Schamron leider nicht sagen. Bei seiner Rückkehr nach London quartierte er sich in der israelischen Botschaft in Kensington ein und benutzte sie als Stützpunkt für Angriffe auf Ziele, die von Tel Aviv bis Langley reichten. Die Mitarbeiter der Operationsabteilung am King Saul Boulevard hatten Schamrons Ausbrüche so satt, dass sie das Los entscheiden ließen, wer das Pech haben sollte, seine Anrufe entgegenzunehmen. Nur Adrian Carter schaffte es, nicht die Geduld mit ihm zu verlieren. Als selbst nicht mehr Aktiver kannte er das Gefühl äußerster Hilflosigkeit, unter dem Schamron litt. Der Rettungsplan stammte von Gabriel, Schamron war nur der Drahtzieher im Hintergrund. Und sogar in dieser Rolle war er stark von Carter und der Agency abhängig. Das verstieß gegen Schamrons tief verwurzelten Glauben an die Prinzipien von kachol velavan. Hätte der Alte unabhängig handeln können, wäre er in Charkows Datscha im Wald marschiert und hätte die Sache selbst erledigt. Und nur ein Narr hätte gegen ihn gewettet. »Er hat Sachen gemacht, die sich keiner von uns vorstellen kann«, sagte Carter zur Verteidigung Schamrons. »Und er trägt die Narben, die das beweisen.«
    Um 18 Uhr an diesem Abend kam Schamron zum ersten Akt in die amerikanische Botschaft in Mayfair. Eine junge CIA-Agentin, die wie eine Austauschstudentin im vorletzten Studienjahr aussah, empfing ihn in der Upper Brook Street. Sie begleitete ihn an den wachhabenden Marineinfanteristen vorbei zum Aufzug, der sie in den unterirdischen Lageraum brachte. Adrian Carter und Graham Seymour saßen bereits im obersten Rang des Lageraums, der die Form eines Amphitheaters hatte. Schamron nahm rechts neben Carter Platz und sah auf einen der großen Bildschirme an der Vorderwand des Raums. Er zeigte ein Transportflugzeug, das auf einem Flugplatz außerhalb von Washington, D. C. stand. Die Maschine gehörte zum 89th Airlift Wing auf der Andrews Air Force Base und war betankt und startbereit.
    Um 19 Uhr klingelte Carters Telefon. Er riss den Hörer von der Gabel, hörte einige Sekunden lang schweigend zu und legte wieder auf.
    »Er ist gerade vorgefahren. Die Sache steigt also, Gentlemen.«
     
    In Washington hatte es eine Zeit gegeben, in der in Regierungs- und Medienkreisen jeder den Namen des sowjetischen Botschafters in den Vereinigten Staaten nennen konnte. Aber heutzutage hatten nur wenige Leute außerhalb des Außenministeriums und außer der dort akkreditierten Journalisten jemals den Namen Konstantin Tretjakow gehört. Obwohl der Botschafter der Russischen Föderation fließend Englisch sprach, trat er selten im Fernsehen auf und gab keine Partys, zu denen die wirklich wichtigen Leute kamen. In einer Stadt, in der Moskaus Abgesandter einst fast wie ein Staatoberhaupt hofiert worden war, war Tretjakow das Schlimmste passiert, was einem in Washington zustoßen konnte. Er war irrelevant.
    Sein offizieller Lebenslauf schilderte ihn als »Amerika-Experten« und Berufsdiplomaten, der auf wichtigen Posten in vielen westlichen Hauptstädten gedient hatte. Unerwähnt blieb der Karriereknick, den er hatte hinnehmen müssen, nachdem er in Oslo Gelder der Botschaft unterschlagen hatte. Auch dass er manchmal zu viel trank, wurde nicht erwähnt. Oder dass er einen Bruder hatte, der für die SWR im Ausland spionierte, während sein zweiter Bruder zum engsten Kreis der Silowiki des Präsidenten im Kreml gehörte. Dieses wenig schmeichelhafte Material war jedoch in seinem CIA-Dossier enthalten, das Ed Fielding erhalten hatte, um das Unternehmen in Andrews

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