Der Oligarch
Füßen gefesselter Mann mit grotesk verzerrtem Gesicht. Chiara lag auf dem Rücken, die Russin war über ihr. Die beiden rangen um eine Pistole, deren Mündung Chiaras Wange schon gefährlich nahe war.
Michail packte den Pistolenlauf und drehte ihn zur Mauer weg. Während zwei weitere Schüsse fielen, die aber keinen Schaden anrichteten, riss Gabriel den Kopf der Russin an den Haaren zurück und jagte ihr eine einzige Kugel durch die Schläfe. Jetzt kreischte nur noch eine Frau. Gabriel schleuderte die Tote zur Seite und fiel auf die Knie. In ihrer Hysterie hielt Chiara ihn zunächst für einen von Charkows Männern und wich entsetzt vor ihm zurück. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sprach auf Italienisch beschwichtigend auf sie ein. »Ich bin’s – Gabriel«, sagte er. »Versuch bitte, dich zu beruhigen. Wir müssen uns beeilen.«
65 G ROSVENOR S QUARE , L ONDON
Später würde darüber debattiert werden, wie lange Gabriel und Michail genau gebraucht hatten, um ihren Auftrag auszuführen. Die Gesamtzeit betrug drei Minuten und zwölf Sekunden – eine eindrucksvolle Leistung, vor allem wenn man bedachte, dass die Fahrt vom ersten Wachposten bis zu der Datscha weit über eine Minute gedauert hatte. Zwischen dem Aufsprengen der Haustür und Chiaras Rettung lagen erstaunliche zweiundzwanzig Sekunden. Lautlosigkeit, Geschwindigkeit, Timing … Und natürlich Mut. Hätte Chiara nicht beschlossen, um ihr Leben zu kämpfen, wären Grigorij und sie bestimmt tot gewesen, bevor Gabriel und Michail ihr Kellerverlies gestürmt hatten.
Die Wunder modernster Satellitenkommunikation machten es möglich, dass der King Saul Boulevard mithörte, als Gabriel Chiara beruhigende italienische Worte zuflüsterte. In der Operationsabteilung verstand niemand, was er sagte. Aber das war auch nicht nötig. Allein die Tatsache, dass er mit einer hysterischen Frau Italienisch sprach, sagte ihnen alles, was sie wissen mussten. Die erste Phase dieses Unternehmens war erfolgreich abgeschlossen. Das bestätigte Michail ihnen um 9:09:12 Uhr Moskauer Zeit. Er bestätigte auch, dass sie Grigorij Bulganow zwar mit schweren Verletzungen, aber lebend gerettet hatten.
In Tel Aviv war ein kollektiver Jubelschrei zu hören, als tagelange Sorge und Traurigkeit wie hochgespannter Dampf durch ein Überdruckventil entwichen. Der Jubel war so laut, dass zehn lange Sekunden verstrichen, bevor Schamron genau verstand, was sich ereignet hatte. Als er die Nachricht an Adrian Carter und Graham Seymour weitergab, wurde auch im Londoner CIA-Lageraum gejubelt – und wenig später zum dritten Mal im Global-Operations-Center in Langley. Nur Schamron weigerte sich, in den allgemeinen Jubel einzustimmen. Und das aus gutem Grund. Die Zahlen sagten ihm genug.
Fünf Agenten.
Zwei körperlich geschwächte Geiseln.
Tausend Meter von der Datscha zur Straße.
Zweihundert Kilometer nach Moskau.
Und Iwan Charkow in der Luft.
Schamron spielte mit seinem alten Zippo-Feuerzeug und sah nochmals auf die Wanduhr: 9:09:52 Uhr.
Die Zahlen …
Anders als Menschen logen Zahlen nie. Und die Zahlen sahen nicht gut aus.
Gabriel knackte Chiaras Hand- und Fußfesseln mit dem Bolzenschneider und zog sie auf die Beine.
»Kannst du gehen, Chiara?«
»Lass mich nicht allein, Gabriel!«
»Ich werde dich niemals allein lassen.«
»Bleib bei mir!«
»Kannst du gehen?«
»Ich denke schon.«
Er schlang ihr einen Arm um die Taille und half ihr die Treppe hinauf.
»Wir müssen uns beeilen, Chiara.«
»Lass mich nicht allein, Gabriel.«
»Ich werde dich niemals allein lassen.«
»Lass mich nicht bei diesen Kerlen zurück.«
»Die sind alle tot, Liebste. Aber wir müssen uns beeilen.«
Sie erreichten die oberste Treppenstufe. In der großen Diele stand Navot – Leichen lagen zu seinen Füßen, Blut war an den Wänden.
»Grigorij sieht schlimm aus«, knurrte Gabriel auf Hebräisch. »Hol ihn rauf.«
Gabriel führte Chiara zwischen den Leichen hindurch auf das Loch in der Mauer zu, wo früher einmal die Haustür gewesen war. Chiara sah weitere Tote. Sie lagen überall. Leichen und Blut.
»O Gott!«
»Nicht hinsehen, Liebste. Einfach weitergehen.«
»O Gott.«
»Weiter, Chiara. Weiter.«
»Hast du sie erschossen, Gabriel? Bist du das gewesen?«
»Geh einfach weiter, Liebste.«
Navot betrat den Kellerraum und sah Grigorijs Gesicht.
Dreckskerle!
Er sah Michail an.
»Komm, wir bringen ihn auf die Beine.«
»Er ist ziemlich schwer verletzt, glaube ich.«
»Das
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