Der Oligarch
Russen arm gewesen und sie waren arm geblieben. Beständigkeit hatte auch ihre Vorteile.
Der Klingelton, der anzeigte, dass die Eingangstür geöffnet wurde, unterbrach Irinas Gedanken. Sie hob den Kopf und sah einen kleinen Mann hereinschlüpfen: schwerer Wintermantel, Wollschal, Hut, Ohrenwärmer, Aktenkoffer in der rechten Hand. Auf der Twerskaja ulitsa waren Hunderte ähnlicher Gestalten unterwegs, dick in Pelz und Wolle verpackt, keiner vom anderen zu unterscheiden. Stalin selbst hätte warm vermummt durch die Straßen spazieren können, ohne von irgendjemandem eines zweiten Blickes gewürdigt zu werden.
Der Mann lockerte den Schal und nahm den Hut ab, sodass ein schmaler Kopf mit schütterem Haar sichtbar wurde. Irina erkannte ihn sofort wieder. Er war der freundliche Alte, der sie am Corner See dazu überredet hatte, von der schlimmsten Nacht ihres Lebens zu erzählen. Und jetzt kam er mit dem Hut in einer Hand und dem Aktenkoffer in der anderen auf ihren Schreibtisch zu. Und Irina war aufgestanden, ohne es zu merken. Lächelte. Schüttelte seine kalte kleine Hand. Bot ihm einen der Besuchersessel an. Fragte, wie sie ihm behilflich sein könne.
»Ich bräuchte Hilfe bei der Planung einer Reise«, sagte er auf Russisch.
»Wohin wollen Sie?«
»In den Westen.«
»Können Sie das Ziel genauer angeben?«
»Leider nicht.«
»Wie lange wollen Sie bleiben?«
»Unbegrenzt lange.«
»Wie groß ist Ihre Gruppe?«
»Auch das muss sich erst zeigen. Mit etwas Glück sind wir eine große Gruppe.«
»Wann wollen Sie abreisen.«
»Heute am späten Abend.«
»Was kann ich also genau tun?«
»Sie können Ihrem Chef sagen, dass Sie auf einen Kaffee weggehen. Und denken Sie daran, Ihre Wertsachen mitzunehmen. Weil Sie nie hierher zurückkommen werden. Niemals mehr.«
64 W LADIMIRSKAJA O BLAST , R USSLAND
Eine russische Datscha kann alles Mögliche sein. Ein Palast aus Holz. Ein von Zwiebel- und Radieschenbeeten umgebener Geräteschuppen. Das Haus am Ende der schmalen Zufahrt war ungefähr in der Mitte zwischen diesen Extremen einzuordnen. Es war niedrig und massiv, solide wie ein Schiff und eindeutig mit bolschewistischer Muskelkraft erbaut. Es gab keine Veranda oder Stufen, nur eine mittig angeordnete kleine Tür, die man durch einen ausgetretenen Trampelpfad im Schnee erreichte. Auf beiden Seiten der Tür befand sich ein Sprossenfenster. Die Fensterrahmen waren einst tannengrün gewesen, inzwischen jedoch grau verfärbt. Hinter den Scheiben hingen dünne Gardinen. Der rechte Vorhang bewegte sich, als Michail den Wählhebel des Range Rovers in Stellung P drückte und den Motor abstellte.
»Nimm den Schlüssel mit.«
»Wirklich?«
»Nimm ihn mit.«
Michail zog den Zündschlüssel ab, steckte ihn in eine kleine Tasche über seinem Herzen und zog den Reißverschluss zu. Gabriel sah zu den beiden Wachposten hinüber. Sie standen ungefähr drei Meter vor den Fenstern, ihre Maschinenpistolen vor der Brust. Ihre Position stellte Gabriel vor eine gewisse Herausforderung. Er würde leicht schräg nach oben schießen müssen, damit die aus den Schädeln der Russen austretenden Geschosse nicht die Fensterscheiben zertrümmerten. Er stellte seine Berechnungen in der Zeit an, die Michail brauchte, um eine Thermosflasche vom Rücksitz zu nehmen. Solche Berechnungen beherrschte er, seit er ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren gewesen war. Jetzt war nur eine weitere Entscheidung zu treffen. Mit welcher Hand? Links oder rechts? Gabriel schoss mit beiden Händen gleich gut. Weil er auf der Beifahrerseite aus dem Range Rover aussteigen würde, entschied er sich für rechts. So riskierte er nicht, dass der Schalldämpfer den Kotflügel streifte, wenn er seine Waffe hochriss.
»Willst du wirklich beide, Gabriel?«
»Beide.«
»Den Linken könnte ich übernehmen.«
»Steig einfach aus.«
Michail öffnete erneut seine Tür und stieg aus. Das tat diesmal auch Gabriel – mit offenem Parka; die Beretta hielt er an der Hosennaht. Michail näherte sich den Wachen, hielt die Thermosflasche hoch, brabbelte dabei auf Russisch. Irgendwas von heißem Kaffee. Irgendwas vom Moskauer Verkehr, der wieder mal die Hölle gewesen sei. Irgendwas davon, dass Charkow in den Krieg gezogen sei. Gabriel verstand es nicht. Aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er konzentrierte sich auf die Stelle vor dem rechten Vorderreifen des Geländewagens, an der er auf ein Knie sinken und zwei weitere Russen ausschalten würde.
Die Wachposten sahen nicht
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