Der Oligarch
war, den man nicht unterschätzen durfte. Ein zusätzlicher Pluspunkt war, dass alles stimmte. Bis auf die Sache mit dem Tennis. Eine vor Jahren erlittene Rückenverletzung hatte ihn steif werden lassen. Obwohl Seymour noch immer passabel spielte, fand er sich selbst nicht mehr gut genug und hatte den Schläger aus der Hand gelegt. Außerdem beanspruchte sein Job ihn so sehr, dass ihm kaum Zeit für Freizeitvergnügen blieb.
Graham Seymour hatte den wenig beneidenswerten Auftrag, in einer gefährlichen Welt für die Sicherheit des Vereinigten Königreichs zu sorgen. Das war kein Job, den Gabriel hätte haben wollen. Für das britische Weltreich mochte die Sonne längst untergegangen sein, aber London zog weiter die Revolutionäre, Verbannten und Ausgestoßenen der Welt an.
»Sie kommen zu spät«, sagte Seymour.
»Der Verkehr war furchtbar.«
»Was Sie nicht sagen.«
Seymour ließ den Türriegel einschnappen und führte Gabriel in die Küche. Sie war klein, aber frisch renoviert und mit deutschen Küchengeräten aus Edelstahl und Arbeitsflächen aus italienischem Marmor ausgestattet. Solche Küchen kannte Gabriel aus den einschlägigen Zeitschriften, die Chiara immer las. »Wundervoll«, sagte er und sah sich theatralisch um. »Da fragt man sich, warum Grigorij dies alles zurücklassen wollte, um ins trübselige Moskau zurückzukehren.«
Gabriel öffnete den Kühlschrank und sah hinein. Der Inhalt ließ wenig Zweifel daran, dass sein Besitzer ein Mann mittleren Alters war, der nicht oft Gäste, vor allem keine weiblichen hatte. In einem Fach standen eine Heringsdose und ein offenes Glas Tomatenmark, im Fach darunter lagen eine halbe Pastete und ein überreifer Camembert. Das Tiefkühlfach enthielt nur Wodka. Gabriel schloss die Tür und wandte sich Seymour zu, der mit angewidert gekräuselter Nase in den Filterbehälter der Kaffeemaschine sah. »Wir sollten wirklich jemand herschicken, der hier putzt.« Er kippte den Filterinhalt in den Mülleimer und wies auf einen kleinen Kaffeehaustisch. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es dürfte alle Fragen beantworten, die Sie vielleicht zu Grigorij und seiner Loyalität haben.«
Auf dem Tisch befand sich lediglich ein Aktenkoffer mit Zahlenschlössern. Seymour drehte mit beiden Daumen an den Rädchen und ließ die Schlösser gleichzeitig aufschnappen. Aus dem Aktenkoffer nahm er zwei Gegenstände: einen tragbaren DVD-Player aus japanischer Produktion und eine unbeschriftete DVD in einer durchsichtigen Hülle. Er schaltete das Gerät ein und legte die DVD ein. Fünfzehn Sekunden später erschien eine Gestalt auf dem Bildschirm: Grigorij Bulganow, der bei Nieselregen im Durchgang zu seiner Wohnanlage stand.
Links unten war der Standort der CCTV-Kamera eingeblendet, die diese Aufnahme gemacht hatte: BRISTOL GARDENS. Oben rechts waren das Datum, der 10. Januar, und die weiterlaufende Uhrzeit eingeblendet: 17:47:39. Grigorij zündete sich gerade eine Zigarette an, wobei er die Flamme mit der linken Hand schützte. Nachdem er das Feuerzeug wieder eingesteckt hatte, suchte er die Straße nach beiden Richtungen ab. Da anscheinend keine Gefahr drohte, ließ er die Zigarette achtlos fallen und setzte sich in Bewegung.
Von Überwachungskameras auf Schritt und Tritt beobachtet, ging er die Formosa Street entlang und überquerte den Grand Union Canal auf einer mit weißen Kugellampen gesäumten stählernen Fußgängerbrücke. Im Halbdunkel auf dem anderen Ufer lungerten vier Jugendliche in Kapuzenjacken herum; Grigorij schlüpfte an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, und passierte die Kolonie aus einförmigen Wohnblocks mit Sozialwohnungen an der Delamere Terrace. Es war wenige Sekunden nach 18 Uhr, als er die Steintreppe zu dem als Browning’s Pool bekannten Bootshafen hinunterstieg. Dort betrat er das Waterside Café und kam genau zwei Minuten und fünfzehn Sekunden später mit einem Pappbecher mit Kunststoffdeckel wieder zum Vorschein. Er blieb etwas länger als eine Minute vor dem Café stehen, dann warf er den Becher in einen Abfallkorb und folgte dem Kai zur nächsten Treppe, die zum Warwick Crescent hinaufführte. Auf dieser ruhigen Straße machte er kurz Halt, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden, die er auf dem Weg zur Harrow Road Bridge rauchte. In jetzt merklich rascherem Tempo ging er die Harrow Street entlang, bis er um 18:12:32 plötzlich stehen blieb und sich dem herankommenden Verkehr zuwandte. Sogleich hielt ein viertüriger schwarzer Mercedes neben
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