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Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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er sich mit der CIA-Agentin Sarah Bancroft in Iwan Charkows Gefolge eingeschlichen. Von allen, die jetzt in der Villa Teresa versammelt waren, hatte nur Michail ein Mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mit Charkow zu essen. Wie er später eingestand, war dies sein schrecklichstes berufliches Erlebnis gewesen – und das sagte ein Mann, der in der Wildnis der besetzten Gebiete allein auf Terroristenjagd gegangen war.
    Auf den Gängen und in den Konferenzräumen am King Saul Boulevard waren diese sechs Männer und Frauen wegen ihrer Fähigkeit, sich rasch zu versammeln und zuzuschlagen unter dem Decknamen »Barak«, hebräisch für »Blitz«, bekannt. Sie hatten gemeinsam – oft unter fast unerträglichem Stress – auf geheimen Schlachtfeldern operiert, die von Moskau über Marseille bis zu der exklusiven Karibikinsel Saint-Barthélemy gereicht hatten. Im Allgemeinen verhielten sie sich höchst professionell, sodass Anfälle von Egoismus und Kleinlichkeit sehr selten waren. Aber gelegentlich konnte etwas scheinbar Triviales, wie beispielsweise die Zimmerverteilung in der gemeinsamen Unterkunft, Ausbrüche von kindischer Gereiztheit provozieren. Weil sie den Konflikt nicht selbst lösen konnten, wandten sie sich an Gabriel, den weisen Herrscher, der eine Verteilung anordnete, die leider niemanden befriedigte, was alle jedoch letztlich für gerecht hielten.
    Sobald die abhörsichere Verbindung zum King Saul Boulevard eingerichtet war, versammelten sich alle zu einem Arbeitsessen. Sie aßen wie eine wiedervereinigte Familie, die sie in vieler Beziehung waren, obwohl ihre Unterhaltung zurückhaltender war als sonst, weil eine Fremde mit am Tisch saß. Die neugierigen Blicke der anderen zeigten Gabriel, dass sie in Tel Aviv alle möglichen Gerüchte gehört hatten. Das Gerücht, dass Amos’ Tage gezählt seien. Das Gerücht, dass Gabriel bald die ihm zustehende Suite des Direktors am King Saul Boulevard beziehen werde. Nur Rimona, Schamrons Nichte, traute sich, ihn zu fragen, ob das wahr sei. Das tat sie flüsternd und auf Hebräisch, damit Olga sie nicht verstand. Als Gabriel ihre Frage überhörte, trat sie ihm unter dem Tisch an den Knöchel – ein Vergeltungsschlag, den nur eine Verwandte Schamrons wagen durfte.
    Nach dem Abendessen versammelte man sich im Salon, und dort machte Gabriel, vor einem prasselnden Kaminfeuer stehend, die Anwesenden mit den Grundzügen des neuen Unternehmens vertraut. Grigorij Bulganow, der russische Überläufer, der Gabriel zwei Mal das Leben gerettet hatte, war von Iwan Charkows Leuten entführt und nach Russland verschleppt worden, wo er vermutlich eingehend vernommen wurde, um anschließend hingerichtet zu werden. Sie würden ihn dort rausholen, sagte Gabriel, und Charkow endgültig das Handwerk legen. Auch ihr Unternehmen würde mit einer Entführung und einem Verhör beginnen.
    In einem anderen Land, in einem anderen Geheimdienst wäre dieser Plan vielleicht ungläubig oder sogar spöttisch kommentiert worden. Nicht jedoch beim Dienst. Dort gab es ein Wort für eine solch unkonventionelle Denkweise: »meschugge«, das hebräische Wort für verrückt oder närrisch. Im Dienst war keine Idee zu meschugge. Manchmal konnte sie gar nicht meschugge genug sein. Das war der Denkansatz, der den Dienst groß gemacht hatte.
    Hinzu kam noch etwas anderes, was den Unterschied zu anderen Diensten ausmachte: Untergebene fühlten sich berechtigt, Vorschläge zu machen oder gar die Aussagen ihrer Vorgesetzten zu kritisieren. Gabriel war keineswegs beleidigt, als sein Team anfing seinen Plan rigoros zu zerpflücken. Obwohl sie eine bunte Mischung darstellten – die meisten hatten gar keine Agentenausbildung –, gingen einige der kühnsten und gefährlichsten Unternehmen des Diensts auf ihr Konto. Sie hatten entführt und gemordet, hatten betrogen, gefälscht und gestohlen. Sie waren Gabriels zweites Augenpaar. Gabriels Sicherheitsnetz.
    Die Diskussion dauerte noch eine Stunde lang. Aus Rücksicht auf Olga sprachen sie meistens Englisch, verfielen aber aus Sicherheitsgründen oder wenn ihnen das richtige Wort fehlte, immer wieder ins Hebräische. Es gab gelegentliche Temperamentsausbrüche und einzelne scharfe Worte, aber insgesamt ging es gesittet zu. Als die letzte Frage geklärt war, schloss Gabriel die Versammlung und teilte das Team in Arbeitsgruppen ein. Jaakov und Jossi würden Fahrzeuge besorgen und die Routen ausarbeiten. Dina, Rimona und Chiara würden die Tarnorganisation aufbauen und

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