Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Oligarch

Der Oligarch

Titel: Der Oligarch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
Vom Netzwerk:
Keine Minute lang.«
    »Du hast geweint, Gabriel. Das sehe ich an deinen Augen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
    »Nein, Leah, alles ist bestens.«
    Sie blickte wieder in den Garten hinaus. »Sieh nur den Schnee, Gabriel. Ist er nicht …«
    Sie brachte den Satz nicht zu Ende. In ihrem Blick flammte kurz Entsetzen auf; Gabriel wusste, dass sie nach Wien zurückgekehrt war. Er ergriff ihre verkrüppelten Hände und redete mit ihr. Über das Gemälde, das er gerade restaurierte. Über die Villa, in der er in Italien gelebt hatte. Über Gilah und Ari Schamron. Über alles außer Wien. Über alles außer Chiara. Als sie ihn zuletzt wieder ansah, wusste er, dass sie zu ihm zurückgekehrt war.
    »Bist du es wirklich, Gabriel?«
    »Ja, Leah, ich bin’s.«
    »Ich hatte Angst, du hättest …«
    »Niemals, Leah.«
    »Du siehst müde aus.«
    »Ich habe ziemlich viel gearbeitet.«
    »Und du bist zu dünn. Möchtest du etwas essen?«
    »Mir geht’s gut, Leah.«
    »Wie lange kannst du bleiben, Liebster?«
    »Leider nicht lange.«
    »Wie geht es deiner Frau?«
    »Ihr geht es gut, Leah.«
    »Ist sie hübsch?«
    »Sehr hübsch.«
    »Kümmerst du dich gut um sie?«
    Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich tue mein Bestes.«
    Sie sah wieder weg. »Sieh nur den Schnee, Gabriel. Ist er nicht schön?«
    »Ja, Leah, er ist schön.«
    »Der Schnee erteilt Wien Absolution von seinen Sünden. Auf Wien fällt Schnee, während es auf Tel Aviv Raketen regnet.« Sie sah ihn erneut an. »Sieh nach, ob Dani fest auf seinem Sitz angeschnallt ist. Die Straßen sind vereist.«
    »Ihm fehlt nichts, Leah.«
    »Gib mir einen Kuss.«
    Gabriel drückte seine Lippen auf ihre von Narben überzogene Wange.
    »Einen letzten Kuss«, flüsterte Leah.
     
    In Tel Aviv und seinen Vororten besitzt der Dienst eine Anzahl sicherer Wohnungen, die als »Absprungpunkte« bekannt sind. Dies sind die Orte, an denen Agenten vorschriftsgemäß und aus Tradition die letzte Nacht verbringen, bevor sie zu Auslandseinsätzen abfliegen. Doch weder Gabriel noch irgendjemand aus seinem Team machte sich die Mühe, den jeweils zugewiesenen Absprungpunkt aufzusuchen. Dafür war keine Zeit. Stattdessen arbeiteten sie die Nacht durch und trafen so spät auf dem Flughafen Ben-Gurion ein, dass das El-Al-Personal sie an den scharfen Sicherheitskontrollen vorbeischleusen musste. Ein weiterer Verstoß gegen die Tradition war, dass das ganze Team in ein und derselben Maschine reiste: El-Al-Flug Nummer 315 nach London. Nur Gabriel hatte an diesem Abend eine Rolle zu spielen; er trennte sich in Heathrow von den anderen und fuhr zum Cheyne Walk in Chelsea. Kurz nach 18 Uhr bog er um die Ecke zu den Cheyne Gardens und klopfte zwei Mal an die Heckscheibe eines neutralen schwarzen Vans. Graham Seymour öffnete die Tür und ließ ihn einsteigen. Die Zielperson war da. Das Schwert lag bereit. Der nächtliche Lauschangriff konnte beginnen.

40 C HELSEA , L ONDON
    Wiktor Orlow teilte Menschen angeblich in zwei Kategorien ein: die, die sich benutzen ließen, und die, die zu dumm waren zu erkennen, dass sie benutzt wurden. Manche hätten wohl noch eine dritte Kategorie hinzugefügt: Die, die bereit waren, sich von Orlow bestehlen zu lassen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ein Gauner und Raubritter war. Stattdessen trug er diese Titel so stolz zur Schau wie seine italienischen Anzüge für dreitausend Pfund und die gestreiften Maßhemden aus Hongkong, die sein Markenzeichen waren. Der dramatische Zusammenbruch des Kommunismus hatte Orlow die Chance verschafft, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, und er hatte sie genutzt. Orlow entschuldigte sich selten für etwas – und am wenigsten für die Art und Weise, wie er reich geworden war. »Wäre ich als Engländer zur Welt gekommen, hätte ich mein Geld vielleicht ehrlich verdient«, hatte er kurz nach seiner Ankunft in London in einem Interview erklärt. »Aber ich bin als Russe geboren. Und so habe ich ein russisches Vermögen erworben.«
    Beim Zusammenbruch des Sowjetreichs war der mathematisch hochbegabte Orlow als Physiker am Bau russischer Kernwaffen beteiligt gewesen. Während die meisten seiner Kollegen fast ohne Gehalt weitergearbeitet hatten, war er Geschäftsmann geworden und hatte als Importeur von Computern, Haushaltsgeräten und anderen Waren aus dem Westen rasch ein kleines Vermögen erworben. Wirklich reich war er jedoch erst geworden, nachdem er den größten russischen Stahlerzeuger sowie den sibirischen Ölgiganten

Weitere Kostenlose Bücher