Der Oligarch
Vom Joch des Kommunismus befreit, hatte sich Orlow aufs Geldverdienen gestürzt, während sich Olga auf die Suche nach Wahrheit gemacht hatte. Sie hatte den größten Teil ihrer Laufbahn damit verbracht, die Machenschaften von Männern wie Wiktor Orlow aufzudecken, und war der Überzeugung, Männer wie er trügen die Hauptschuld am Niedergang von Freiheit und Demokratie in ihrem Land. Orlows Raffgier hatte mit dazu beigetragen, die einzigartigen Umstände zu schaffen, die dem Kreml die Wiedererrichtung eines autoritären Regimes ermöglicht hatten. Ohne Männer wie ihn wäre der russische Präsident womöglich ein kleines Rädchen in der St. Petersburger Stadtverwaltung geblieben. Stattdessen regierte er nun das größte Land der Welt mit eiserner Faust und galt als einer der reichsten Männer Europas. Sogar noch reicher als Orlow.
Der Tee wurde serviert. Sie saßen am rechten und linken Rand des langen Brokatsofas und blickten auf ein hohes Fenster mit bodenlangen Samtportieren. Wären die Vorhänge nicht zum Schutz vor Scharfschützen zugezogen gewesen, hätten sie das Chelsea Embankment und die Themse sehen können – eine Ironie des Schicksals, nachdem Orlow mehrere Millionen Pfund dafür ausgegeben hatte, sich eine der besten Aussichten Londons zu sichern. Zu einem dunkelblauen Anzug trug Orlow ein Hemd mit preiselbeerroten Streifen. Sein linker Arm lag so auf der Rückenlehne des Sofas ausgestreckt, dass Olga eine unermesslich kostbare goldene Armbanduhr mit Brillanten bewundern konnte. Der andere Arm war auf die Armlehne gestützt. Die rechte Hand spielte unaufhörlich mit einer Lesebrille. Alte Bekannte Orlows hätten diesen Tick sofort wiedererkannt. Wiktor Orlow war ständig in Bewegung, selbst wenn er saß.
»Bitte, Olga, helfen Sie mir auf die Sprünge: Wann haben wir uns zuletzt gesehen?«
Auch das wäre manchem bekannt vorgekommen. Orlow gehörte nicht zu den Leuten, die sich rühmten, niemals ein Gesicht zu vergessen. Ganz im Gegenteil – vielmehr gab er vor, Leute zu vergessen. Das war ein Verhandlungstrick. Damit machte er seinen Gesprächspartnern klar, dass sie wenig einprägsam waren. Unbedeutend. Ohne Einfluss oder Verdienste. Olga, der es egal war, was Orlow von ihr dachte, antwortete wahrheitsgemäß. Sie seien sich erst ein Mal begegnet, half sie ihm auf die Sprünge. In Moskau, kurz vor seiner überstürzten Flucht nach London.
»Ah, ganz recht, jetzt erinnere ich mich! Ich weiß noch, dass ich sehr wütend auf Sie war, weil Sie an den wertvollen Informationen, die ich für Sie hatte, nicht interessiert waren.«
»Hätte ich die Story geschrieben, die Sie mir aufdrängen wollten, wäre ich ermordet worden.«
»Die furchtlose Olga Schukowa hatte Angst? Davon haben Sie sich früher nie aufhalten lassen. Wie ich höre, können Sie von Glück sagen, dass Sie noch leben. Der Kreml hat nie damit herausgerückt, was letzten Sommer in diesem Treppenhaus wirklich passiert ist, aber ich kenne die Wahrheit. Sie haben belastendes Material gegen Iwan Charkow gesammelt, und Charkow hat versucht, Sie zum Schweigen zu bringen. Endgültig.«
Olga äußerte sich nicht dazu.
»Sie leugnen also nicht, dass es so war?«
»Ihre Informanten sind seit jeher zuverlässig, Wiktor.«
Er akzeptierte ihr Kompliment, indem er seine Brille zwei Mal rasch kreisen ließ. »Nur schade, dass wir uns erst heute wieder treffen. Wie Sie sich denken können, habe ich Ihren Fall sehr aufmerksam verfolgt. Als die Einzelheiten Ihrer Flucht bekannt wurden, habe ich versucht, Verbindung mit Ihnen aufzunehmen, aber es war unmöglich, Sie aufzuspüren. Ich habe meine Freunde beim britischen Geheimdienst gebeten, eine Nachricht an Sie weiterzuleiten, aber das wollten sie aus irgendeinem Grund nicht.«
»Wieso haben Sie nicht einfach Grigorij gefragt, wo ich bin?«
Die Brille hörte zu kreisen auf, jedoch nur wenige Sekunden. »Das habe ich getan, aber er wollte es mir nicht sagen. Ich weiß, dass Sie mit ihm befreundet sind. Ich vermute, dass er Sie nicht mit anderen teilen will.«
Olga registrierte, dass Orlow im Präsens sprach: Ich weiß, dass Sie mit ihm befreundet sind … dass er Sie nicht mit anderen teilen will … Dies schien darauf hinzudeuten, dass er nichts von Grigorijs Entführung wusste – falls er nicht log, was jederzeit denkbar war. Wiktor Orlow war genetisch außerstande, die Wahrheit zu sagen.
»Der Wiktor von früher hätte sich nicht die Mühe gemacht, Grigorij nach meiner Adresse zu fragen. Er
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