Der Oligarch
hätte ihn einfach beschatten lassen.«
»Glauben Sie ja nicht, das wäre mir nicht eingefallen.«
»Aber Sie haben es nicht getan.«
»Grigorij beschatten lassen?« Er schüttelte den Kopf. »Die Engländer lassen meinen Leibwächtern ziemlich freie Hand, aber private Überwachungsmaßnahmen würden sie niemals dulden. Schließlich bin ich noch immer russischer Staatsbürger. Und gegen mich läuft ein offizielles Auslieferungsgesuch. Ich bemühe mich, meine englischen Gastgeber nicht allzu sehr gegen mich aufzubringen.«
»Aber Sie kritisieren den Kreml, wann immer Ihnen danach ist.«
»Niemand kann erwarten, dass ich stumm bleibe. Sobald ich Unrecht sehe, muss ich die Stimme erheben. Das ist meine Natur. Deshalb kommen Grigorij und ich so gut miteinander aus.« Orlow machte eine Pause, dann fragte er: »Wie geht es ihm?«
»Grigorij?« Sie trank einen kleinen Schluck Tee und sagte, sie habe seit einigen Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen. »Sie?«
»Ich habe ihn erst neulich von einem meiner Assistenten anrufen lassen. Leider hat er bisher nicht zurückgerufen. Ich vermute, dass er sehr mit seinem Buch beschäftigt ist.« Orlow bedachte sie mit einem Verschwörerblick. »Einige meiner Leute haben heimlich mit Grigorij zusammengearbeitet. Wie Sie sich vorstellen können, will ich, dass sein Buch ein Riesenerfolg wird.«
»Wieso überrascht mich das nicht, Wiktor?«
»Das ist eben meine Art. Mir macht es Spaß, anderen zu helfen. Erzählen Sie mir, an welcher Story Sie arbeiten. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«
»Es geht um die Geschichte eines Deserteurs. Eines Überläufers, der spurlos verschwunden ist.«
»Hat dieser Mann einen Namen?«
»Grigorij Nikolajewitsch Bulganow.«
In dem Überwachungswagen nahm Graham Seymour seine Kopfhörer ab und sah zu Gabriel hinüber.
»Klasse gemacht.«
»Sie ist gut, Graham. Sehr gut.«
»Kann ich sie haben, wenn Sie sie nicht mehr brauchen?«
Gabriel legte einen Finger auf die Lippen. Wiktor Orlow sprach wieder. Sie hörten einen russischen Wortschwall, dann die Stimme des Dolmetschers.
»Erzählen Sie mir, was Sie darüber wissen, Olga. Erzählen Sie mir alles! «
42 C HELSEA , L ONDON
Alles an Orlow war plötzlich in Bewegung. Seine Brille kreiselte, die Finger trommelten auf die Rückenlehne des Sofas, und sein linkes Auge zuckte hektisch. Wegen dieses Ticks war er in seiner Kindheit erbarmungslos gehänselt und verspottet worden. Das hatte in ihm einen brennenden Hass erzeugt – und diesem Hass verdankte er seine späteren Erfolge. Wiktor Orlow hatte besser sein wollen als jeder andere. Und das alles nur wegen eines Zuckens im linken Auge.
»Sind Sie sicher, dass er verschwunden ist?«
»Ganz sicher.«
»Wann ist er verschwunden?«
»Am zehnten Januar. Kurz nach achtzehn Uhr. Auf dem Weg zu seinem Schachklub.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Olga Suchowa. Ich weiß alles.«
»Wissen die Engländer das auch?«
»Natürlich.«
»Was ist ihrer Meinung nach passiert?«
»Sie denken, dass er freiwillig heimgekehrt ist. Sie vermuten, dass er wieder in der Lubjanka ist und seinen Vorgesetzten alles erzählt, was er während seiner Arbeit für Sie über Ihre Geschäftsmethoden erfahren hat.«
Das Auge blinzelte jetzt ohne Orlows Zutun wie der Verschluss einer Hochgeschwindigkeitskamera.
»Wieso haben sie mir das nicht gesagt?«
»Ich bezweifle, dass Sie auf ihrer Prioritätenliste sehr weit oben stehen, Wiktor. Aber keine Sorge – das mit Grigorijs Rückkehr stimmt so nicht. Er ist nicht freiwillig heimgekehrt, sondern entführt worden.« Sie wartete einen Augenblick, um das Gesagte wirken zu lassen, bevor sie hinzufügte: »Von Iwan Charkow.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Olga Suchowa.«
»Und Sie wissen alles.«
»Nicht wirklich alles. Aber vielleicht können Sie mir helfen, einige der fehlenden Puzzleteile zu ergänzen. Ich weiß zum Beispiel nicht, wer der Mann war, den Charkow engagiert hat, um ihn entführen zu lassen. Ich weiß nur, dass er sehr gut ist. Ein echter Profi.« Sie machte eine Pause. »Die Art Mann, die Sie früher in Moskau engagiert haben – in der schlimmen alten Zeit, Wiktor, wenn Sie ein Problem hatten, das sich einfach nicht anders lösen ließ.«
»Seien Sie vorsichtig, verehrte Frau Suchowa.«
»Das bin ich immer. In all den Jahren, in denen ich für die Gaseta geschrieben habe, habe ich nie einen Widerruf abdrucken müssen. Keinen einzigen.«
»Aber nur, weil Sie nie über
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