Der Oligarch
zweiundsiebzig Stunden gewährt. Die reichten gerade für einen weiteren Tag in Zürich.
Gabriel wies sein Team an, ins Hotel zurückzukehren und sich auszuruhen. Obwohl er selbst dringend Schlaf brauchte, hielt er sich nicht an den eigenen Befehl, sondern schlüpfte in den auf der Talstrasse geparkten Überwachungswagen. Dort verbrachte er die Nacht allein, ließ den Eingang von Becker & Puhl keine Sekunde aus den Augen, wartete auf Charkows Killer. Auf Charkows Kameraden aus dem KGB. Auf Charkows alten Freund aus dem Moskau der neunziger Jahre, aus der schlimmen alten Zeit, in der nichts, auch kein Gesetz, Charkow daran gehindert hatte, mit Auftragsmorden Karriere zu machen. Ein Mann wie er wusste vielleicht, wo Charkow seine blutige Arbeit verrichtete. Ein Mann wie er hatte vielleicht schon selbst dort gemordet.
Wenige Minuten vor 9 Uhr am folgenden Morgen kamen Sarah und Navot zur Arbeit. Jossi löste Gabriel in dem Van ab, und alles begann wieder von vorn. Warten … warten … immer nur warten … Kurz vor 16 Uhr saß Gabriel mit Michail in einem Café am Paradeplatz. Michail bestellte ihm etwas zu essen. »Und sag bloß nicht nein. Du siehst jämmerlich aus. Außerdem musst du bei Kräften sein, wenn wir Petrow niederringen.«
»Ich glaube allmählich, dass er nicht kommt.«
»Und fünf Millionen Dollar einfach liegen lässt? Er kommt bald, Gabriel. Verlass dich darauf.«
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Tschernow war gegen Geschäftsschluss hier, und Petrow wird zur gleichen Zeit kommen. Diese russischen Ganoven tun nichts, so lange es hell ist. Sie bevorzugen die Nacht. Verlass dich auf mich, Gabriel. Ich kenne sie besser als du. Ich bin unter ihnen aufgewachsen.«
Die beiden saßen nebeneinander auf Hockern an der Fenstertheke. Draußen auf dem belebten Platz flammten Straßenlaternen auf, Trambahnen schlängelten sich die Bahnhofstrasse entlang. Michails Finger trommelten nervös auf die Theke.
»Davon bekomme ich Kopfschmerzen, Michail.«
»Entschuldige, Boss.« Das Trommeln hörte auf.
»Hast du irgendwas?«
»Außer dass wir auf einen russischen Killer warten, der sein Honorar für die Entführung deiner Frau abholen will? Nein, Gabriel, nicht das Geringste.«
»Findest du meine Entscheidung falsch, Sarah in die Bank zu schicken?«
»Natürlich nicht. Sie ist die Idealbesetzung für diesen Job.«
»Wenn du mit einer meiner Entscheidungen nicht einverstanden wärest, würdest du es mir sagen, nicht wahr, Michail? So hat unser Team immer funktioniert. Wir besprechen alles miteinander.«
»Ich hätte etwas gesagt, wenn ich anderer Meinung gewesen wäre.«
»Das ist gut, Michail, denn ich möchte nicht denken müssen, irgendetwas habe sich geändert, weil du jetzt mit Sarah zusammen bist.«
Michail trank einen Schluck Kaffee, spielte auf Zeit.
»Hör zu, Gabriel, ich wollte es dir sagen, aber …«
»Aber was?«
»Ich dachte, du würdest wütend werden.«
»Weshalb?«
»Komm schon, Gabriel, muss ich jetzt darüber reden? Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Es ist der ideale Zeitpunkt.«
Michail stellte seine Kaffeetasse ab. »Sobald wir Sarah für das Al-Bakari-Unternehmen angeworben hatten, war uns allen klar, dass sie ziemlich in dich verknallt war. Und ganz ehrlich gesagt …«
»Ehrlich gesagt?«
»Wir dachten, dir ginge es vielleicht ähnlich.«
»Das ist nicht wahr. Und das war nie wahr.«
»Okay, Gabriel, was immer du sagst.«
Die Bedienung stellte Gabriel ein Sandwich hin. Er schob den Teller sofort beiseite.
»Iss, Gabriel. Du musst etwas essen.«
Gabriel brach eine Ecke des Sandwichs ab. »Liebst du sie, Michail?«
»Was möchtest du als Antwort hören?«
»Die Wahrheit wäre nett.«
»Ja, Gabriel. Ich liebe sie sehr. Zu sehr.«
»So was gibt es nicht. Aber du musst mir einen Gefallen tun, Michail. Sorge gut für sie. Wandere nach Amerika aus. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich aus diesem Geschäft rauskommst. Steig aus, bevor du …«
Er brachte diesen Gedanken nicht zu Ende. Michail fing wieder an mit den Fingern zu trommeln.
»Glaubst du, dass er kommt?«
»Er kommt bestimmt.«
»Zwei Tage lang nur warten. Ich kann die Warterei nicht mehr ertragen.«
»Du wirst nicht mehr lange warten müssen, Michail.«
»Woher willst du das so sicher wissen?«
»Weil Anton Petrow eben an uns vorbeigegangen ist.«
52 Z ÜRICH
Er trug einen dunklen Dufflecoat, einen grauen Schal, eine große Brille mit Metallgestell und eine tief in die Stirn
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