Der Olivenhain
sich vor und riss verzweifelt an seinem Hemd, um ihn hochzuziehen. Als sie dann einen Schritt zurück tat, um ihre Kraft zu sammeln, riss ihr die Strömung die Beine weg. Das Letzte, was sie von Frank sah, waren seine blauen, vor Panik weit aufgerissenen Augen unter Wasser. Sein Mund stand offen. Sie wusste, dass er es nicht schaffen würde.
Das Wasser war kalt. Elizabeth dachte, dass sie in Panik geraten, mit den Armen rudern und um Hilfe rufen sollte, doch sie brachte einfach nicht die Kraft dazu auf. Plötzlich wusste sie, dass sie untergehen wollte, dass sie zusammen mit Frank in die Tiefe sinken wollte. Sie hatte genug von ihren Geheimnissen, genug vom Leben. Waren neunzig Jahre nicht mehr als genug?
Das Wasser schlug ihren Arm gegen einen Felsbrocken, und ein höllischer Schmerz durchzuckte ihren Körper. Sie schrie auf und schluckte Wasser, das nach altem Fisch schmeckte. Sie merkte, wie sie mit ihrer Bluse an einem Ast hängen blieb, der zwischen zwei Felsen eingekeilt war, und dass sie nicht weitergetrieben wurde.
Die Luft war hier nicht klar und roch verbrannt. Sie stellte fest, dass sie meilenweit flussabwärts getrieben war und sich nun auf Höhe der Reisfelder befand, die um diese Jahreszeit von den Bauern abgeerntet und abgebrannt wurden. Der Rauch hing stellenweise tief am Ufer, weshalb Elizabeth nicht sehen konnte, ob jemand gekommen war, um nach ihr zu suchen. Sie fragte sich, ob Guy gesehen hatte, wie sie fortgespült wurde, oder ob die Frau mit dem Telefon hatte Hilfe rufen können.
Das Wasser rauschte tosend wie ein Wasserfall, und sie glaubte, Stimmen zu hören. Da waren ein Mann, der über Baumstümpfe und eine seichte Stelle sprach, eine Frau, die etwas rief, und die Erinnerung an Mims, wie sie davon sprach, dass ein Stück Land erst dann einer Familie gehörte, wenn ihre Toten darin begraben lagen.
Sie blickte zum Himmel hinauf, während sie immer noch an dem Ast hing und das Wasser um sie herum toste. Ein Fischadler mit einem Stück Holz zwischen seinen Krallen flog über sie hinweg. Die braunweiß gestreiften Flügel weit ausgebreitet und die Flügelspitzen gespreizt wie Fingerspitzen, glitt er durch die Luft, sodass Elizabeth das weiße Kreuz auf seiner Brust sehen konnte.
Sie schloss die Augen und entspannte sich. Das Wasser, das gegen ihren steifen Körper drückte, drehte sie auf den Bauch. Als ihr Gesicht unter Wasser tauchte, versuchte sie, den Kopf zu heben, um nach Luft zu schnappen, aber das Wasser floss zu schnell, und sie war von der Macht der Strömung so ungünstig verdreht worden, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Sie wehrte sich nicht länger und öffnete die Augen, doch das Wasser war zu trüb, um auf den Grund des Flusses blicken zu können.
Aus Kellers Tagebuch
1. August 2017
Eigentlich bin ich schon zu groß für Gutenachtgeschichten, aber wenn mich meine Mutter abends ruft, komme ich noch einmal aus meinem Zimmer und setze mich ans Bett meiner kleinen Schwester. Wenn es mir kalt ist, wickle ich mich in eine Decke ein; aber wenn der trockene Wüstenwind die Luft aufgeheizt hat so wie heute, dann lege ich mich auf den Boden und presse meine Wangen an die kühlen Dielen. Wir wohnen in einem sehr alten Haus auf dem Hügel, und vom Fenster meines Zimmers aus kann ich über den großen Olivenhain schauen, den mein Ururururgroßvater gepflanzt hat.
Die Geschichte fängt immer gleich an: »Es war einmal ein sonderbares Mädchen, das an einem sonderbaren Ort lebte. Sie hatte so viele Freunde wie ein Mädchen in ihrem Alter nur haben konnte, doch ihr engster Gefährte war eine Schildkröte, die immer erzählte, sie sei so alt wie der Staub der Erde. Aber eigentlich war sie erst hundertzweiundsiebzig Jahre alt. Die Schildkröte hatte keinen Namen, sondern wurde von dem Mädchen nur Schildkröte genannt. Das Mädchen hatte zwar einen Namen, doch sie zog es vor, nur das Mädchen zu sein.«
Oft will dann meine Schwester, dass man dem Mädchen einen richtigen Namen gibt. Meistens besteht sie auf Athena, weil sie so heißt. Doch meine Mutter bleibt standhaft: Die Schildkröte heißt Schildkröte und das Mädchen ist das Mädchen. In meiner Familie sind alle Frauen ziemlich stur. »Das ist eben so«, sagt meine Mutter dann und tätschelt meiner Schwester liebevoll die Schenkel. Heute Abend versucht Athena aber gar nicht, der Geschichte ihren Stempel aufzudrücken. Wahrscheinlich, weil Anna mit uns im Zimmer sitzt.
Alle wissen, dass Anna, meine unglaubliche
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